Materialien 2000
„Gastarbeiter“ - ein historisches Missverständnis und seine Folgen
„Deutschland ist kein Einwanderungsland“
Dieser zunächst einmal harmlos daherkommende Satz hat schwerwiegende Konsequenzen für das Zusammenleben von Migranten und der Aufnahmegesellschaft, für die Akzeptanz und Gleichstellung der Migranten in der Bundesrepublik. Jahrzehntelang wurde er gebetsmühlenartig von Teilen der Politik wiederholt. Man hatte oft das Bild der drei Affen vor sich, die nicht hören, nicht sehen und ja nichts zugeben wollten. Dies hat eine bewusste Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungen und notwendigen politischen Anpassungsprozessen verhindert, die mit der faktisch stattgefundenen Einwanderung notwendig gewesen wäre. Die neueren Diskussionen lassen zwar eine z. T. veränderte Rhetorik zu diesem Thema erkennen: Man bräuchte doch Einwanderung aus demographischen oder wirtschaftlichen Gründen. Deutschland sei vielleicht doch ein Einwanderungsland, aber kein klassisches! Ein zunächst positives politisches Signal, das leider im Lichte der halbherzigen Regelungen zur „Green-Card“, aber auch der aufkommenden Diskussionen um „Leitkultur“ und „deutschen Nationalstolz“ daran zweifeln lässt, dass dies der ersehnte und notwendige Anfang eines politischen Paradigmenwechsels von einer ausgrenzenden „Gastarbeiter“- und „Ausländerpolitik“ zu einer modernen und akzeptierenden Einwanderungs- und Integrationspolitik ist.
Gerade in der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung mit der Bewusstseinsseite der Einwanderungsprozesse von zentraler Bedeutung. Denn Deutschland ist vor allem ein Einwanderungsland ohne das Bewusstsein dafür. Zwar besteht die heutige Migrantenbevölkerung – ich zähle dazu alle längerfristig hier lebende Menschen mit Migrationshintergrund: Asylberechtigte, jüdische Kontingentflüchtlinge, deutsche Spätaussiedler, Heiratsmigranten usw. – nicht nur aus den ehemaligen angeworbenen Arbeitsmigranten und ihren Familien, jedoch ist ihre Geschichte, ihr Status und ihre Situation für die öffentliche Wahrnehmung der Einwanderung und der Einwanderer von besonderer Bedeutung. Ich meine damit ein historisches Missverständnis mit weitreichenden Folgen, das ich kurz das „Gastarbeitersyndrom“ nenne.
Worum geht es?
Als in den 5Oer und 60er Jahren Arbeitskräfte aus Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal, Tunesien und Marokko angeworben wurden, gingen alle Beteiligten von einem kurzen Gastspiel aus. Die sogenannten „Gastarbeiter“ kamen, um etwas Geld zu verdienen und bald wieder in die Heimat zurückzukehren. Die Aufnahmegesellschaft ging ebenfalls davon aus, dass die Arbeitskräfte bald wieder gehen oder zurück geschickt werden würden. Nach dem so genannten Rotationsprinzip sollten sie nach einer bestimmten Zeit gegen neue Kräfte ausgetauscht werden. An einer wirklichen Integration war tatsächlich niemand besonders interessiert. Es kam aber alles anders. Die Wirtschaft wollte bald nichts mehr vom Rotationsprinzip wissen, denn die gerade angelernten Arbeiter wollte man nicht wieder gegen neu einzuarbeitende austauschen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen ließen zum Teil ihre Familien nachkommen und stellten sich auf einen etwas längeren Aufenthalt ein, aber der Traum von der Rückkehr blieb.
So begann ein historisches Missverständnis, das dann sehr hartnäckig gegen die Realität der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts dieser Menschen in der Bundesrepublik in den Köpfen der Bevölkerung und im politischen Ausländerdiskurs währen sollte. Dass Menschen keine Maschinen sind, die man beliebig hier und da einsetzen kann, dass sie Wurzeln schlagen, manchmal sogar gegen ihre eigenen Vorstellungen, will bis heute nicht richtig geglaubt werden. Sonst würde man bei der Green-Card-Diskussion nicht wieder von begrenzter Aufenthaltsdauer der anzuwerbenden Spezialisten ausgehen. Aus der Geschichte lernen?
Gäste mit Gastrecht?
Die „Ausländerpolitik“ der 70er und 80er Jahre bestand hauptsächlich in einem „Abwehrprogramm“ – Anwerbestop, Rückkehrprogramm mit materiellen Anreizen einerseits, und den dringend notwendig gewordenen, bruchstückhaften und reaktiven Integrationsmaßnahmen anderseits. In der Realität sind trotz der Konzeptlosigkeit und Unwilligkeit beider Beteiligten große Integrationsleistungen erbracht worden. Die zweite, dritte und vierte Generation von Kindern sind hier geboren und aufgewachsen, ganze Lebens- und Arbeitsbiographien sind in der immer noch als provisorisch betrachteten Heimat gelaufen, Freundschaften und Nachbarschaften sind entstanden. Aus den „Gastarbeitern“ sind eigentlich dauerhafte Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden. Vor allem im Bewusstsein der Aufnahmegesellschaft blieben die Migranten jedoch „Gäste“ mit „Gastrecht“. Wir Orientalen machen uns manchmal lustig über diesen Begriff von „Gast“ und Gastfreundlichkeit, bei dem die Gäste so hart arbeiten müssen! Aber in dem vielleicht ganz zu Beginn noch etwas freundlicher gemeinten Begriff liegt vor allem eine ausgrenzende Wirkung und die Weigerung, die neuen Bewohner des Landes als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger zu akzeptieren.
Nicht zuletzt Dank der Gewerkschaften und sozialstaatlicher Rahmenbedingungen sind Migranten mit langjährigem Aufenthalt zivil-, sozial- und arbeitsrechtlich in sehr vielen Bereichen tatsächlich den Einheimischen gleichgestellt und mit gleichen Rechten und Pflichten versehen worden. Von einer Gesellschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger sind wir jedoch weit entfernt. Vor allem politisch sind die Migranten je nach Aufenthaltsstatus Bürger zweiter, dritter und vierter Klasse geblieben. Die Verweigerungshaltung, die Einwanderung öffentlich zu akzeptieren, hat dazu geführt, dass die Migranten sich oft schwer tun, sich als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen und auch ihrerseits konsequenter und langfristiger ihre Zukunft hier zu planen. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich ebenfalls kaum mit den Konsequenzen einer ethnischen und kulturellen Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung auseinandergesetzt und gelernt damit umzugehen.
Dies würde heißen, Ängste abzubauen, und Akzeptanz für und Kompetenz im Umgang mit Unterschieden als wichtige Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Gemeinsamkeiten entwickelt und Annäherungsprozesse stattfinden können. Es bedeutete auch, sich mit den interkulturellen und migrationsbedingten Aspekten der sozialen Integration auseinander zusetzen und das Entstehen oder Fortbestehen einer ethnisch markierten Unterschichtung zu vermeiden (z. B. durch entsprechende Schul- und Bildungskonzepte die Benachteiligung von Migrantenkindern abzubauen).
Es geht auch darum, im rechtlichen Bereich die Rahmenbedingungen für die Gleichstellung und Antidiskriminierung zu schaffen: dazu gehören eine nicht kastrierte Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mit Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft – das tatsächlich großen Teilen der Migranten die Einbürgerung ermöglicht – genauso wie das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer mit längerem Aufenthalt. Auch die Abschaffung von ausgrenzenden Sondergesetzen und ein Antidiskriminierungsgesetz wären wichtige politische Schritte.
Das bürgerschaftliche Engagement und die Partizipation von Migrantinnen und Migranten an den politischen Entscheidungsprozessen, wie z. B. in Ausländerbeiräten, muss gefördert und institutionalisiert werden, denn von oben und über unsere Köpfe hinweg wird keine Integration gelingen, die ihren Namen verdient und die Migranten nicht bis zur Unkenntlichkeit „integriert“ bzw. assimiliert, sondern eine plurale und demokratische Gesellschaft von mündigen und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zum Ziel hat.
Es ist an der Zeit, die Migration als Chance zu begreifen und zu gestalten!
Mitra Sharifi Neystanak
Mitra Sharifi Neystanak ist Iranerin, Germanistin und Sprachwissenschaftlerin, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Bayerns (AGABY) und stellvertretende Vorsitzende des Bundesausländerbeirates, lebt seit 15 Jahren in Deutschland.
Geschichte quer. Zeitschrift der bayrischen Geschichtswerkstätten 9/2001, Aschaffenburg, 44 f.