Materialien 2000

Interview mit Claus Schreer: „Gleiche Rechte - für alle, die hier leben“

Das „Münchner Bündnis gegen Rassismus“ besteht seit 1991. In ihm sind Leute aus verschiedenen linken Organisationen und Initiativen, aber auch Einzelpersonen, aktiv. Die HN sprachen mit Claus Schreer vom Bündnis.

HN: Prominente und Politiker fordern in diesem Sommer die Bevölkerung zu verstärktem Engagement gegen rechte Gewalt auf Gleichzeitig will der Staat sein Instrumentarium bei Polizei und Justiz gegen rechte Gewalttäter schärfen. Wie bewertest du das?

Claus Schreer: Dazu muss man zwei Dinge sagen: Erstens, es ist die pure Heuchelei, denn es sind im wesentlichen die gleichen Politiker und Parteien, die jahrelang selber mit ihren Äußerungen den Nazis das Feindbild geliefert haben und es heute immer noch tun. Sie haben die Flüchtlinge als „Scheinasylanten“, als „Asylbetrüger“ und „Schmarotzer“ diffamiert. Und heute, im Zusammenhang mit der „Greencard“ und der Debatte um ein Einwanderungsgesetz, heißt es wieder: „Wir wollen Ausländer die uns nützen, aber keine die uns ausnützen.“1 So wird ein politisches Klima erzeugt, wo Nazis und rechtsradikale Schlägerbanden praktisch ständig die politische Munition erhalten. Hinzu kommt, dass Ausländer-raus-Politik zur offiziellen Staatspraxis gemacht wurde. Mit der Grundgesetzänderung des Artikels 16 zum Beispiel wurden Forderungen von Nazi-Organisationen, von den Reps, und der NPD in die Verfassung geschrieben. Das Asylrecht wurde faktisch abgeschafft. Die Opfer des rassistischen Mobs wurden bestraft. Die Täter hatten erreicht, was sie wollten. Der zweite Punkt ist der: Ausgerechnet diejenigen, die mit ihrer rassistischen Politik den Nazis den Boden bereiten, fordern jetzt das Verbot der NPD, schärferes Vorgehen, mehr Kompetenzen und Befugnisse für den Bundesgrenzschutz, Schnellgerichte, Einschränkungen des Versammlungsrechts. Es sind gesetzliche Verschärfungen, die sie seit Jahren auf ihrer Wunschliste haben, die sie uns aber jetzt als Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus anpreisen und so möglicherweise auch durchkriegen. Im Ernstfall werden diese schärferen Instrumente des Staates jedoch nicht gegen Rechts, sondern gegen Linke, gegen demokratische Bewegungen, eingesetzt, zum Beispiel gegen Antifaschisten, wie das schon bisher die Regel war. Jahrelang wurden die Veranstaltungen der DVU in Passau mit riesigen Polizeiaufgeboten geschützt, genauso wie der berüchtigte Naziaufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung in München. Kriminalisiert, verhaftet und mit Prozessen überzogen wurden dagegen die Antifaschisten, die gegen die Nazis demonstriert haben.

HN: Beschränkt sich denn Rassismus alleine auf die rechte Gewalt, auf die das Thema zur Zeit fokussiert wird?

Claus Schreer: Die Ausrichtung nur gegen rechte Gewalt greift deswegen zu kurz, weil diese Gewalt der faschistischen Schlägerbanden praktisch das Ergebnis der offiziellen, gegen Flüchtlinge und Migranten gerichteten Politik ist, die zudem von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird. Man kann die rechte Gewalt nicht bekämpfen, wenn man nicht gleichzeitig die rechte Ideologie ächtet, wenn man nicht Schluss macht mit der Diffamierung von Flüchtlingen und Migranten und der politischen Brandstifterei.

HN: Oberbürgermeister Ude hat vor Jahren in München ein „Bündnis für Toleranz“ initiiert. Reichen denn ein solches Bündnis oder Aufrufe, wie sie jüngst die „Abendzeitung“ an die Öffentlichkeit richtete – inklusive einer .Kundgebung – an die Wurzeln des gesellschaftlichen Zustandes heran, der den von Dir beschriebenen Rassismus hervorbringt?

Claus Schreer: Das reicht natürlich nicht. Ich fand die Kundgebung der „Abendzeitung“ insgesamt positiv, weil ich Schlimmeres befürchtet hatte. Immerhin hatten auch führende CSU-Politiker, darunter auch Edmund Stoiber, sowie Repräsentanten von Parteien aufgerufen, die die Hauptverantwortung tragen für das rassistische Klima in diesem Land. Ihnen geht es gar nicht um die Opfer der faschistischen Gewalttäter, Ihnen geht es ausschließlich um das Ansehen Deutschlands im Ausland, um mehr nicht. Diese Aufrufe zur „Toleranz“ – dieser Begriff ist meiner Meinung nach keine wirklich fortschrittliche Orientierung. Toleranz heißt „erdulden“ oder „Duldung“, Das ist aber genau das Problem: Flüchtlinge und die sogenannten „Ausländer“ sind in Deutschland nur Geduldete, die uns bestenfalls nicht stören, solange sie uns nicht zur Last fallen, Sieben Millionen sogenannte Ausländer – auch diejenigen, die hier geboren sind – werden als Menschen zweiter Klasse behandelt, durch die Ausländergesetze diskriminiert und entrechtet. Flüchtlinge, die aus Kriegsgebieten kommen aus Regionen, in denen es keine Existenzmöglichkeit gibt oder weil sie dort unterdrückt und verfolgt werden, werden hier schikaniert, bekommen Arbeitsverbot und werden so schnell als möglich wieder abgeschoben, selbst in Folterstaaten. Diese Teilung in Deutsche und geduldete Ausländer dürfen wir nicht akzeptieren. Im Grundgesetz steht: Niemand darf wegen seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seiner Herkunft benachteiligt werden. Das muss der Maßstab sein, und das heißt nichts anderes als: Gleiche Rechte – für alle, die hier leben. Das darf nicht nur auf dem Papier stehen, das muss verwirklicht werden.

HN: Wie oder wo setzt denn das „Münchner Bündnis gegen Rassismus“ an? Was ist zu tun, vor allem über reine Forderungen an die Politik hinaus? Denn erfahrungsgemäß ist das immer eine schwierige Sache, von Politikern etwas zu verlangen, was sie erklärtermaßen gar nicht wollen. Wo seht ihr Handlungsspielraum? Welchen Handlungsspielraum versucht ihr selber zu erkämpfen?

Claus Schreer: Das ist ein weites Feld, und wir sind natürlich gar nicht in der Lage, das alles zu tun, was tatsächlich notwendig wäre. Wir sind in erster Linie ein Aktionsbündnis. Wir beschäftigen uns sehr intensiv mit den gesellschaftlichen Ursachen des Rassismus und haben dazu viele Seminare und Veranstaltungen durchgeführt, aber wir beschränken uns nicht auf Analyse und Diskussionen. Unser Schwerpunkt seit knapp zehn Jahren ist: Wir greifen ein, wir organisieren, wann immer es notwendig ist, Protest und möglichst auch Widerstand. Beispielsweise, als Flüchtlinge auf der Theresienwiese in Containerlager gesperrt wurden oder wenn Jörg Haider in München auftritt, oder gegen Abschiebungen. Wir haben 1991 den Schönhuber-Marsch blockiert und später bei seiner Großveranstaltung die Menschenkette um die Olympiahalle mitorganisiert. Wir haben mehrmals Großdemonstrationen am 9. November und gegen die Abschaffung des Asylrechts organisiert, die Demonstration gegen die rassistische Unterschriftenaktion der CSU und gegen den NPD-Aufmarsch am 1. März 1997, der dann zwar spät, aber doch noch kurz vor dem Marienplatz von 10.000 Münchnern gestoppt wurde. Wir versuchen immer möglichst viele Gruppen und Organisationen zusammenzukriegen und möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Ein großer Teil unserer Aktivitäten richtet sich natürlich gegen die Politiker und Parteien die, wie ich schon dargestellt habe, verantwortlich sind für das rassistische Klima und die rassistische Staatspraxis in der BRD. Wir treten aber nicht als Bittsteller auf. Uns ist völlig klar: Ändern wird sich nur dann etwas, wenn der Staat und die Parteien unter stärkeren Druck geraten und zu einer anderen Politik gezwungen werden. Das gilt auch für Forderungen nach Unterstützung von Flüchtlingsinitiativen, die Hervorragendes leisten . oder die Arbeit der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN)“. Finanzielle Förderung von Aufklärungsarbeit über die Wurzeln des Faschismus, vor allem in Schulen und Freizeitstätten, muss Priorität bekommen. Wohlfeile Sonntagsreden ändern nichts.

HN: Siehst du einen Grund, warum beispielsweise die Gewerkschaften, die doch ein quantitativ beachtliches Potential auf die Waagschale bringen könnten, dieser Thematik – abgesehen von vielen, aber vereinzelten Initiativen – recht distanziert gegenüberstehen? Die Gewerkschaften wären doch in der Lage, den nötigen politischen Druck auf die Politik auszuüben, um Politiker zu den angesprochenen Entscheidungen zu bewegen. Oder hat das Argument „Standort Deutschland“, hat die Angst um Arbeitsplätze schon so weit die Köpfe von Leuten erreicht, dass sie in den MigrantInnen Konkurrenten sehen und nicht Leute, mit denen sie gemeinsam auf der gleichen Seite stehen?

Claus Schreer: Ich denke, dass die Auffassung „das Boot ist voll“ oder wie es Bundesinnenminister Schily sagt, dass „die Grenze der Belastbarkeit überschritten“ sei, auch in den Gewerkschaften sehr verbreitet ist. Das Problem scheint mir zu sein, dass die Gewerkschaften kein wirkliches Gegenkonzept haben zu diesem Kapitalismus, der – solange er existiert – auch immer Massenarbeitslosigkeit produziert. Sie haben sich abgefunden oder akzeptieren dieses System. Sie unterwerfen sich der Wettbewerbslogik, den Standort Deutschland gegen die Konkurrenz zu verteidigen. Wer aber die Wurzeln der Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen will, wird sehr leicht zum Opfer rechter „Sündenbock“-Propaganda. In den Gewerkschaften muss wieder stärker über eine Alternative zur Kapitalherrschaft diskutiert werden, denn: Eine solidarische Gesellschaft, die nicht auf Ausgrenzung beruht, in der MigrantInnen nicht als Konkurrenten angesehen werden, das ist mit Kapitalismus nicht vereinbar.

HN: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview für die Haidhauser Nachrichten machte Andreas Bohl.


Haidhauser Nachrichten 9 vom September 2000, 5.

1 Günther Beckstein, CSU: „Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen.“ Focus vom 10. Juni 2000.

Überraschung

Jahr: 2000
Bereich: AusländerInnen

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