Materialien 2000

Kampf ums Bleiberecht Vol. 1 und DeportationClass-Kampagne

Als im November 1999 endlich die lange erwartete „Altfallregelung” der Innenministerkonferenz beschlossen wird, ist die Enttäuschung groß. Nur wenige Flüchtlinge profitieren von dieser Regelung. In Bayern gelten zudem noch weitere Ausschlusskriterien und die Enttäuschung schlägt in Empörung um. Über mehrere Monate organisiert die Karawane in einem Bündnis mit verschiedenen Exilorganisationen Proteste gegen die bayerischen Regelungen und für ein bedingungsloses Bleiberecht. Jeden Monat findet eine Demonstration oder Kundgebung vor dem Ministerium statt. Nachdem in diesem Bündnis gemeinsam beschlossen wird, über mehrere Wochen ein Protestcamp vor dem Innenministerium abzuhalten, flaut das Engagement merklich ab. Zu groß sind offensichtlich die Ängste vor einer solchen Aktion des zivilen Ungehorsams, die schließlich nicht stattfindet.

Am 7. April startet die bundesweite „deportation class”-Kampagne des Bündnisses „kein mensch ist illegal” gegen die Lufthansa AG, um sie durch öffentlichkeitswirksame Aktionen zum Rückzug aus dem Abschiebegeschäft zu bringen. Die Kampagne ist eine Reaktion auf den gewaltsamen Tod des Sudanesen Aamir Ageeb bei seiner Abschiebung aus Deutschland. An Bord des Flugzeugs wurde Aamir Ageeb gefesselt und bekam einen Motorradhelm aufgesetzt. Während des Starts drückten ihm die anwesenden Bundesgrenzschutzbeamten den Kopf nach unten, wobei er erstickte.

Die Karawane München beteiligt sich an einigen Aktionen und demonstriert mehrfach am Flughafen. Die Lufthansa reagiert schließlich auf die Kampagne und gibt ihrem Personal die Anweisung, Abschiebungen bei Zweifeln an der Rückkehrwilligkeit des Abzuschiebenden abzubrechen und weder Fesselung noch sonstigen unmittelbaren Zwang an Bord zu akzeptieren. Auch andere Fluggesellschaften ziehen nach. Dies erleichtert es der Karawane München in den folgenden Jahren, Abschiebungen durch Druck auf die Fluggesellschaften zu stoppen.

Ende April 2000 nimmt eine Delegation der Münchner Karawane am internationalen Karawane-Flüchtlingskongress in Jena teil. Mehrere hundert AktivistInnen aus dem ganzen Bundesgebiet, sowie einzelne aus der ganzen Welt tauschen eine Woche lang Erfahrungen aus. In Jena entstehen wichtige Impulse für die Kämpfe der kommenden Jahre gegen Abschiebungen und für eine andere Welt ohne Rassismus, Ausbeutung und Diskriminierung. Unter anderem wird eine bis in die Gegenwart andauernde Kampagne gegen die Beschränkung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit durch die „Residenzpflicht” gestartet.

Neben Mobilisierungen zu Protestaktionen und der Verhinderung von Abschiebungen engagiert sich die Karawane auch dafür, juristisches Wissen für das Überleben im Gesetzesdschungel des deutschen Asyl- und Ausländerrechts zu vermitteln: Das Praxis-Handbuch „Recht für Flüchtlinge” des Rechtsanwalts Hubert Heinhold wird in Englisch und Französisch übersetzt, und von Flüchtlingen in den Unterkünften verteilt.

Ein aktionistisches Highlight des Jahres ist die Protestaktion gegen den togoischen Diktator Gnassingbé Eyadéma, der zur Expo 2000 auf Staatsbesuch nach Hannover kommt: Aus München macht sich ein ganzer Bus von hauptsächlich togoischen AktivistInnen auf. In Hannover wird Eyademas Limousine mit Pferdeäpfeln beworfen. Einige AktivistInnen entrollen auf dem Expogelände Transparente und konfrontieren den Diktator mit ihrer Wut. Die Presse fotografiert eifrig und der erhoffte triumphale Auftritt des Staatsoberhaupts ist gehörig verdorben. Ein Protest mit Nachspiel, denn erstaunlicherweise erkennen deutsche Gerichte bei einigen togoischen TeilnehmerInnen wegen der internationalen Aufmerksamkeit tatsächlich „Nachfluchtgründe” an – sie erhalten Asyl, weil eine Rückkehr nach Togo für sie lebensgefährlich wäre.

Eine Demo im Dezember vor die Regierung von Oberbayern thematisiert die miserablen Lebensbedingungen im Flüchtlingslager München Riem/Schwankhardtweg. In der Unterkunft gibt es damals vorübergehend eine Zelle, in die Abschiebehäftlinge vor dem Weitertransport zum Flughafen eingeschlossen werden. Insgesamt ist die Situation der BewohnerInnen des Schwankhardtwegs besonders schwierig, nicht zuletzt durch die Willkür des Lagerleiters Vogt. BewohnerInnen des Lagers beklagen sich über kaputte Kochstellen und Heizungen mitten im Winter, aber nichts passiert. Die Karawane informiert die Presse, was auf starke Resonanz bis hin zur Bildzeitung stößt. Vogt rächt sich für die Skandalisierung an einem Ehepaar, das mit JournalistInnen über die Zustände im Lager gesprochen hat. Gemeinsam mit dem Haussicherheitsdienst durchsucht er das Zimmer der Familie und schickt ihnen anschließend die Polizei auf den Hals, die die beide Eheleute festnimmt und mit Schlägen und Pfefferspray traktiert. Die Karawane organisiert gemeinsam mit der „Roten Hilfe” finanzielle Unterstützung für das Ehepaar beim folgenden Strafverfahren. Gegen Lagerleiter Vogt und seine Schikanen protestiert die Karawane in den folgenden Jahren immer wieder.


Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 12 f.

Überraschung

Jahr: 2000
Bereich: Flüchtlinge

Referenzen