Materialien 2000

„Der Zensor geht um“ oder „In welcher Zeit leben wir?“

Zu neuen skandalösen Zensurfällen auf dem Gebiet der Moral
und Sexualität in Deutschland und was Kurt Tucholsky dazu meint

Der Zensor geht um, heißt ein Artikel Kurt Tucholskys aus dem Jahr 1920 über die Beschlagnahme von Büchern mit unzüchtigen Bildern, der folgendermaßen schließt: In welcher Zeit leben wir? Wir leben in einer Zeit, wo dem stramm emporgereckten Philister erlaubt ist, einer Nation Kandare anzulegen. Wehrt euch! Heute werden – und zwar von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – nicht nur Bücher und Filme unzüchtigen Inhalts zensiert, sondern Schriften mit wissenschaftlichen Texten und harmlosen Fotos, die aber die Oberzensurräte (Tucholsky) in Bonn für jugendgefährdend halten. So fanden sie im Dezember 1998 die Zeitschrift KOINOS (Nr.17/1998) für indizierungswert, nicht etwa weil dort pornographische Bilder oder Texte verbreitet würden, sondern weil u.a. eine Untersuchung präsentiert wurde, in der Studenten, die sexuelle Erfahrungen als Kind mit Erwachsenen hatten, diese öfter ab positiv (38 % – 68 %), neutral (8 % – 32 %) als negativ (8 % – 45 %) bewerten. Die Bundesprüfstelle zweifelt diese wissenschaftliche Studie keineswegs an, hält aber ihre Zitierung für verdammens- und verbietenswert, fürchtend, dass solche Zitate Kinder und Jugendliche in ihrem sozialethischen Reifungsprozess negativ beeinflussen können. Denn: Der Inhalt ist offenbar geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren.

Mit derselben Begründung wurde im Dezember 1999 das Heft 12/1999 der Zeitschrift VOGUE indiziert; dort waren harmlose Mädchen-Fotos gezeigt worden, die nichts mit Pornographie zu tun haben, und auch nach Ansicht der Bundesprüfstelle selbst nicht sexuell stimulierend oder aufreizend sind. Trotzdem wurden die Bilder und damit das ganze Heft zensiert, und zwar mit der Begründung, die abgebildeten Kinder würden hier zu Anschauungsobjekten degradiert. – Es kommt noch schlimmer: Darin, behaupten diese moralischen Fetischisten (Tucholsky) dreist (Tucholsky: dreiste Anmaßung vermuffter Bürgerkreise!), liegt eine eklatante Verletzung der Menschenwürde und damit der vom Grundgesetz errichteten Wertordnung insgesamt.

Wes Geistes Kind sind Leute, die sich so unverblümt mit den unglaublichsten Ansichten hervorwagen (Tucholsky)? Man stelle sich vor, schrieb Tucholsky vor 70 Jahren, wie die Literatur eines Landes aussähe, wenn man sie vorher der Zensur: diesem Gremium von Beamtenanmaßung, protestantischem Muff, katholischer Propaganda und allgemeiner Ängstlichkeit (…) überantwortete. Das Gremium der Vogue-Indizierung bestand aus drei Leuten: einer leitenden Regierungsdirektorin, einer Schriftstellerin (Thea Graumann) und einem kirchlichen Vertreter. Und diese zeigen allein schon in ihrer Ausdrucksweise, wes Ungeistes Kind (Tucholsky) sie sind: Während von der abgebildeten schlafenden Anna gesagt wird, dass sie Unschuld und Unberührtheit vermittelt, heißt es von der gepuderten Anna , bei ihr werde Berührtheit demonstriert, und auch beim nächsten Foto wird behauptet: Anna erzielt mit der Pose der Hand auf der Brust ebenfalls die Suggestion der Berührung. Anna berührt sich selbst, wird von niemand anderem berührt; trotzdem spricht die Bundesprüfstelle von Zuweisung einer Opferrolle, vom Eindruck der geschlechtlichen Verfügbarkeit der Kinderkörper, von der Reduktion auf das Geschlechtliche. – Eine Phantasie haben die Leute! Und sie machen diese und ihre zufällig vorhandenen geistigen Anschauungen zum Maß aller Dinge (Tucholsky).

Beantragt wurde die Indizierung vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Diese befürchtet, so heißt es im Antrag, Kindern könnte durch den Anblick der Bilder der Eindruck vermittelt werden, dass es doch nicht so schlimm sei, sich vor Erwachsenen auszuziehen. (Dabei zeigt jedes der Fotos nur ein Kind ohne weitere Person, also auch keinen Erwachsenen!)

Und die Bundesprüfstelle befürchtet, solche Fotos könnten Sexualstraftäter ihren Opfern zeigen und so gezielt auf die Tat einstellen. Dann aber müssten alle Abbildungen von nicht vollständig bekleideten Kindern verboten werden einschließlich kindlicher Engelsdarstellungen oder Bilder und Statuen des nackten Jesus- und Johanneskindes, und mit der Schauobjekt-„Begründung“ jedwede Darstellung von Kindern! Was für eine körperfeindliche Atmosphäre wird dabei erzeugt! Vor 80 Jahren warnte Kurt Tucholsky schon davor, eine gute Erziehung durch Bevormundung und Verbot zu ersetzen. Der Presseerklärung des Arbeitskreises Sexualstrafrecht der Humanistischen Union zu der VOGUE-lndizierung ist beizupflichten:

Peinlich sind die Hinweise auf die „Sexualerziehung“ und „Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit“. Denn gerade durch eine solche Zensur-Praxis wird ein Klima gefördert, das einen selbstverständlichen und natürlichen Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Person verhindert. Kurt Tucholsky würde sich drastischer ausdrücken und von einer ganz verstaubten, verlogenen und zutiefst unehrlichen Zensur sprechen, von einer lächerlichen Bevormundung, von verblüffender Intoleranz, von Prüderie, die in Fanatismus mündet: Falsch ist das, kleinbürgerlich und dumm. So erzieht man kein Volk! Und: Wenn das so weitergeht, haben wir in vier Wochen eine obrigkeitsstaatliche Bevormundung, die sich in gar nichts von Metternichs Zensur unterscheiden wird.

Nun: wir sind auf dem besten Wege dahin: Da entdeckte neulich ein bayrischer Verkehrspolizist bei einer Führerscheinkontrolle ein Foto, das er für pornographisch hält. Daraufhin wurde von der Staatsanwaltschaft Traunstein ein Ermittlungsverfahren gegen den Fahrer eingeleitet und vom Amtsgericht Mühldorf am Inn die Durchsuchung der Wohnung mit Nebenräumen und den Fahrzeugen nach folgenden Gegenständen angeordnet: 1. kinderpornographische Schriften, 2. EDV-Anlage, die zur Speicherung von kinderpornographischen Schriften dienen kann. Im Beschluss des Amtsrichters Ott vom 3. November 1999 heißt es dazu unter Gründe: Aufgrund der bisherigen Ermittlungen besteht der Verdacht, dass der Beschuldigte im Besitz kinderpornographischer Schriften ist. Bei einer Fahrzeugkontrolle wurde bei dem Beschuldigten eindeutig kinderpornographisches Material sichergestellt. Dieses „eindeutig kinderpornographische Material“ bestand in einem Foto aus einem Aufklärungsbuch (Günter Amendt: Das Sex Buch), das Jugendliche in jeder anständigen Schulbibliothek ausleihen können und das sowohl von Pro Familia (in Herzflattern – Buchtips für Jugendliche 1999) als auch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Sexualpädagogische Materialien, 1995) empfohlen wird.

Johannes Glötzner


Mitteilungen der Humanistischen Union 169 vom März 2000, 16.

Überraschung

Jahr: 2000
Bereich: Zensur

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