Materialien 2001

Einweihungsrede am Mariahilfplatz 10

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

ich freue mich und fühle mich auch geehrt, einige Worte anlässlich der offiziellen Einweihung der neuen Räumlichkeiten sprechen zu dürfen.

Vielleicht erinnern sich noch einige: 1993 gab es erbitterte Verhandlungen um die Frage, ob der damalige Kreisverwaltungsreferent wiedergewählt werden sollte. Um das Bündnis von SPD und Grüne zu retten, haben die Grünen – die damalige Stadträtin der Grünen, Angelika Lex und meine Wenigkeit – in einem verzweifelten Moment der Kompromißsuche gesagt: „… und das Therapie- und Behandlungszentrum für Folteropfer wollen wir auch endlich gefördert haben.“ Der damalige Oberbürgermeister Georg Kronawitter machte eine achselzuckende Bewegung, die in etwa besagen sollte: an solchen Peanuts wird eine Verständigung nicht scheitern. So war es denn auch.

REFUGIO konnte beginnen.

Das ist eine Geschichte, die zeigt, dass Politik oft viel mehr mit Feilschen als mit Überzeugen zu tun hat. Aber das REFUGIO heute die offizielle Eröffnung in diesen neuen, deutlich größeren Räumen feiern kann, zeigt vor allem etwas anderes: REFUGIO ist aus dem Verbundsystem der Flüchtlingshilfen in München nicht mehr wegzudenken. REFUGIO hat sich einen zentralen Stellenwert in der Flüchtlingshilfe in München aufgebaut.

Lassen Sie mich einige Fälle aus meiner Arbeit schildern: vor gut einem Jahr erfuhr ich von zwei kleineren Kindern aus dem Kosovo. Diese seien in eine kleine zwei Zimmer Wohnung zu ihrem Großvater eingezogen. Der Großvater war Rollstuhlfahrer. Die Kinder sind von entfernten Bekann-
ten der Eltern nach Deutschland gebracht worden, nachdem der Vater von serbischen Einheiten erschossen wurde und die Mutter spurlos verschwunden war. Ein furchtbarer Fall, der auf einen Schlag die völlig hoffnungslose Situation dieser beiden Kinder beleuchtet.

Oder ein anderer Fall: vor ca. vier Monaten hat sich eine niedergelassene Psychotherapeutin an mich gewandt. Sie hatte eine Patientin aus Bosnien, die schwer suizidgefährdet war. Ganz offen-
sichtlich war die Frau Gefangene in einem der Vergewaltigungslager während des Krieges in Bosnien – und hat diese Situation nach ihrer Flucht nach Deutschland nie aufgearbeitet. In dem Augenblick aber, in dem die Abschiebung im Raum stand, sind alle alten Ängste aufgebrochen.

Diese Liste könnte ich noch lange fortführen, was in diesem Kreis aber nicht notwendig ist. Der Grund, warum ich die Fälle in diesem Rahmen kurz angedeutet habe, ist aufzuzeigen, für welche Notsituationen es früher in München und genauer: in ganz Bayern, keine Anlaufstelle und keine Hilfe gab. All diese Menschen, die ich an REFUGIO vermitteln konnte, hatten früher keinerlei Hilfestellung. Es gab so gut wie keine PsychotherapeutInnen, die sich mit Traumatisierungen auskannten. Es gab keine Stelle, wo andere kulturelle Hintergründe bekannt waren und mit Hilfe von Dolmetschern, oder auch in der Muttersprache wirklich Hilfe geleistet werden konnte.

REFUGIO war und ist die einzige Stelle, die hier Hilfe leistet. REFUGIO ist aufgrund der lang-
jährigen engagierten, hervorragenden und allgemein anerkannten Arbeit zu einem nicht mehr wegzudenkenden Faktor geworden.

Bald nach der Gründung war klar, das REFUGIO schon zu klein ist – denn die Nachfrage für The-
rapien, Krisenintervention und Beratung für Flüchtlinge war und ist enorm. Es war nur folgerich-
tig, dass REFUGIO nun diese größeren Räume hat.

Das führt mich zur Kehrseite des Wachsens von REFUGIO: der „Erfolg“ von REFUGIO ist natür-
lich das Ergebnis einer Schattenseite: die Notwendigkeit von REFUGIO zeigt, wie es um Flüchtlin-
ge bestellt ist.

Es zeigt, wie viele Menschen, die aus furchtbaren Situationen fliehen mussten, (s.o.) die unter ständiger Gefährdung nach Deutschland kamen, schwerste psychische Belastungen durchgemacht haben. Es zeigt, wie viele Menschen der Folter, unmenschlicher Behandlung, sexueller Verfolgung und Unterdrückungssituationen ausgesetzt sind.

Und gerade in diesem Zusammenhang muss es gesagt werden: ich finde es immer wieder erbärm-
lich, wie dann von vielen Politikern die Rede von den Asylbetrügern und Wirtschaftsflüchtlingen im Munde geführt wird. Da sind sich der Bundesinnenminister und der Bayerische Innenminister einig: nur drei Prozent der Flüchtlinge seien echte, verfolgte Asylbewerber, alle anderen sind Asyl-
betrüger und Wirtschaftsflüchtlinge. Ganz egal sind ihnen dabei z.B. die Statistiken der Ausländer-
beauftragten der Bundesregierung, die erst vor einigen Monaten dargelegt hat, daß knapp fünfzig Prozent aller Flüchtlinge einen wie auch immer gearteten Aufenthaltsstatus erhalten.

Die Notwendigkeit von Zuwanderung soll der Bevölkerung dadurch schmackhaft gemacht werden, dass das Asylrecht – besser gesagt die Reste, die die faktische Abschaffung des Grundrechts von 1993 übriggelassen hat – noch weiter ausgehöhlt wird. Mit anderen Worten: Arbeitsmigranten werden gegen Flüchtlinge aufgerechnet.

Diese Aufrechnung kann nur von jemanden ernsthaft vertreten werden, der davon ausgeht, dass Flüchtlinge keine wirklich humanitären Gründe haben, um zu uns zu kommen. Diese Aufrechnung tut so, als ob Flüchtlinge nichts anderes als Arbeitsmigranten wären – die nur auf einer anderen rechtlichen Grundlage kommen. Dieser Überlegung liegt die oben zitierte Behauptung zugrunde, dass 97 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, gar nicht verfolgt wären. Wird diese Aufrechnung Wirklichkeit, wird sie das endgültige Aus für das Asylrecht als Grundrecht be-
deuten.

Allen diesen Politikern, die das Asylrecht aus Opportunitätsgründen opfern wollen, würde ich ein einwöchiges Praktikum bei REFUGIO empfehlen. Sie würden hier hautnah erleben, wie vielfältig Fluchtsituationen und Fluchterlebnisse sind. Wie sich Traumatisierungen zu immer größeren Angstattacken entwickeln und wie sie das Schicksal ganzer Familien ein Leben lang prägen kön-
nen.

Ich beneide die MitarbeiterInnen von REFUGIO nicht um ihre Arbeit. Es ist eine schwierige, sehr belastende und bis an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten gehende Arbeit.

Ich möchte mich bei den MitarbeiterInnen von REFUGIO – bei der Geschäftsführerin Annie Kam-
merlander ganz besonders – für diese herausragende Arbeit bedanken. Sie haben mit ihrer Arbeit REFUGIO zu einer unerlässlichen Anlaufstelle für Flüchtlinge gemacht – und damit dafür gesorgt, dass die Flüchtlingsarbeit in München ein ganzes Stück humaner geworden ist.

Ich wünsche Ihnen auch für die Zukunft viel Kraft für Ihre Arbeit.

Siegfried Benker


www.siegfried-benker.de

Überraschung

Jahr: 2001
Bereich: Flüchtlinge

Referenzen