Materialien 2001

Gedächtnisprotokoll: „Menschenrechte“ in der „zivilisierten Welt“

23:20: Stürmung der Schule „Diaz“, Panik, Menschen versuchen zu fliehen (…). Nach wenigen Minuten ist klar, dass man keine Chance hat zu entkommen; unten hört man die Polizei einmarschieren (Knallen und Zersplittern von Gegenständen, lautes Rufen). Die Eingeschlossenen stellen sich mit erhobenen Händen an die Wände. Wir befinden uns im ersten Stock (…). Polizisten (…) erscheinen. Sie schreien uns an: „bastardo, bastardo“ und beginnen, mit den Knüppeln in die Menge zu schlagen, obwohl alle durch ihre erhobenen Hände signalisieren, dass sie keinerlei Gegenwehr leisten werden. Was folgt, ist blinde Raserei, ein Polizist vor mir tritt eine Tür ein, wohl weil er denkt, dass sich dort jemand versteckt hält. Angst. Ein Freund neben mir wird geschlagen. (…) Wir liegen 10 Minuten auf dem Boden mit den Händen über dem Kopf, während die Polizisten alle/s kurz und klein schlagen. Schließlich kommt ein Polizist. Als er sieht, dass bereits Menschen regungslos in ihrem eigenen Blut liegen, befiehlt er den Polizisten zu stoppen. Anschließend werden wir (…) ins Erdgeschoss getrieben. (…) auf dem Treppenabsatz [steht] ein Mann im Anzug mit Helm und Knüppel. Jede/r muss ihn passieren. Dabei schlägt er jeder/m noch einmal auf den Rücken und beschimpft uns. Er wirkt auf mich wie ein Offizieller. Im Erdgeschoss (…) müssen wir uns mit den Händen im Nacken auf den Boden setzen und dürfen nicht aufsehen. Die Polizisten drohen uns verbal und durch ihr Auftreten (…). Neben mir stöhnt ein Schwerverletzter. Er hat Mühe zu atmen. Immer wieder scheint er in Ohnmacht zu fallen. Hinter mir liegt eine Frau um die 40. Sie ist blutüberströmt und befindet sich offensichtlich in einem Schockzustand. Ein anderer junger Mann lehnt an der Wand. Er ist ebenfalls blutüberströmt. Ich habe ihn später wieder getroffen. Er hatte mehrere Platzwunden an der Stirn, ob sein Kopf Schaden genommen hat, wurde nicht untersucht. Einige weniger schwer Verletzte beginnen nach dem Notarzt zu rufen., da wir Angst haben, dass einige von uns sterben würden. Schließlich kommen Sanitäter. Es sind viel zu wenige. (…) Meine Beine werden taub, da ich auf den Knien sitze, aber ich traue mich nicht, mich zu bewegen. Währenddessen werfen Polizisten sämtliche Gegenstände (…) in die rechte Ecke des Raumes. Anschließend öffnen sie alles, machen die Sachen kaputt und werfen die schwarzen Kleidungsstücke auf einen Haufen. Mit den neuen Sanitätern kommt auch ein Arzt, der versucht, uns zu beruhigen. Als schließlich die meisten der Verletzten abtransportiert sind, werde ich zu den restlichen Leichtverletzten in die Mitte des Raumes geschickt. Dort müssen wir uns wieder hinknien. Anschließend werden unsere Ausweise eingesammelt. Keiner sagt uns, was los ist, warum man uns die Ausweise abnimmt, was uns erwartet, was uns vorgeworfen wird. Danach werden die ersten Leichtverletzten abgeführt. (…) Insgesamt werden drei Busse á 7 bis 8 Leute aus der Schule direkt nach Bolzaneto gebracht. Der Rest nimmt den „Umweg“ über das Krankenhaus. Als wir die Schule verlassen, blenden uns die Blitzlichter der Fotografen. Ich muss mich in dem Polizeibus auf den Boden setzen, Arme über dem Kopf verschränkt und den Blick auf den Boden richten, da zu wenig Platz ist. Man schreit uns an, wir sind total verschüchtert. Wir sind acht Gefangene und ebenso viele Polizisten in dem Bus. Nach einer ca. 25-minütigen Fahrt, erreichen wir den Zielpunkt. (…) Ich habe unendliche Angst vor dem, was kommen wird. (…) wir [werden] aus dem Bus gezerrt; es ist jetzt gegen 2:30 Uhr. Dabei erhält jede/r eine Ohrfeige von einem der Polizisten. Wir müssen uns an einer Wand gleich neben dem Eingang des Gebäudes (der Militärkaserne Bolzaneto, wie ich später erfahre) aufstellen. Mein Freund wird von mir getrennt. (…) Ich habe noch meine Zahnbürste in der Hosentasche. Ein Polizist nimmt sie an sich und schlägt seinen Kollegen vor, dass ich mir damit doch auch die Ohren säubern könne; dazu fährt er mit der Zahnbürste an meinen Ohren entlang. (…) Mich befragt schließlich ein Mann, der sowohl italienisch als auch deutsch spricht. (…)Er will wissen, was ich in Genua mache, warum ich nach Italien gekommen sei, ob ich eine Linke sei. Mir gegenüber spielt er den Vertrauenswürdigen, den „Zivilisierten“. Von anderen erfahre ich im Nachhinein, dass derselbe Mann sie geschlagen und misshandelt hat. (…) Schließlich werde ich mit (…) drei anderen Frauen in den Eingangsbereich der Kaserne geführt. (…) [Wir] müssen (…) uns wieder an die Wand stellen mit gespreizten Beinen und erhobenen Armen. Wir stehen ca. zwei Stunden dort. Als ich einmal die Arme herunternehme, weil sie allmählich taub werden, schlägt mir einer der Anwesenden in den Rücken und erklärt mir auf italienisch, dass ich hier die Arme oben lassen müsse. Nach einiger Zeit dürfen wir uns auf den Boden setzen. (…) Es werden männliche Gefangene hereingeführt. Einige von ihnen sind von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersäht, sie haben genähte Platzwunden, gebrochene Arme und Beine. Sie sind direkt aus dem Krankenhaus hierher überstellt worden und sehen furchtbar aus. Schließlich werden wir in die (…) Zelle (…) geführt. (…) Es ist gegen 4:30 oder 5:00 Uhr. Wir vier setzen uns an die Wand und kuscheln uns aneinander, weil es sehr kalt ist. Vor der Tür Bewacher (…), welche immer wieder Fragen an uns richten und uns teilweise auch mit semi-obszönen Bemerkungen zu drangsalieren versuchen. Draußen knallen Türen. (…) Die Zelle füllt sich schnell mit Mitgefangenen aus der Schule. An der rechten Zellenwand „dürfen“ sich die Frauen hinsetzen, auf der linken Seite müssen sich die Männer hinstellen. Sie müssen, bis es hell ist, (…) an der Wand stehen. Als sich auch die Männer endlich setzen dürfen, zeigt sich, wie verschüchtert alle sind. Erst nach mehrmaliger Aufforderung und als sie sich ganz sicher sind, den Befehl richtig verstanden zu haben, trauen sich die Männer, sich hinzusetzen. Ein Mann wird hereingeführt, dessen ganzes Bein gegipst ist. Er bleibt in der Mitte des Raumes sitzen und robbt auf den Befehl der „Wärter“ hin und her. Ich nicke kurzzeitig ein. Es ist extrem kalt. Gegen 10:00 Uhr morgens werde ich in die gegenüberliegende Zelle gebracht. Dort sehe ich meine Freunde wieder. (…) Leise beginnen wir uns zu unterhalten. Alle sind völlig erschöpft und verängstigt. Gegen 11:00 Uhr beginnen wir, um Wasser zu betteln. Nach einiger Zeit reicht man uns einen kleinen Plastikbecher voll Wasser in die Zelle. Wir verlangen, dass er des öfteren aufgefüllt wird. (…) Um aufs Klo zu gehen, müssen wir an die Gittertür gehen und „Scusa“ rufen, bis jemand kommt, dem wir unser Anliegen mitteilen können. (…) Ein oder eine Bewacher/in lassen einen aus der Zelle, drücken den Kopf nach unten und „führen“ einen den Gang entlang.(…) Wenn uns Frauen begleiten, müssen wir die Tür offen lassen. (…) Binden oder Tampons werden gar nicht bereitgestellt. Als ich einmal eine Polizistin in der Annahme, eine Frau müsste das Problem verstehen, danach frage, schreit sie mich an und erklärt mir, dass solche Menschen wie ich darauf eh kein Anrecht hätten. Aufgrund meiner instabilen psychischen Lage muss ich heulen. Sie (…) scheint einen besonderen Drang zu haben, sich vor ihren männlichen Kollegen zu profilieren, indem sie uns auffallend schlecht behandelt. (…) Immer wieder, besonders dann, wenn die Inhaftierten beginnen, wegzudösen, erscheinen „Wärter“ oder „Vorgesetzte“, um Namen in die Zelle zu brüllen oder mit Listen herumzugehen, auf denen sie Namen abhaken. Wir erfahren nicht, warum sie dies tun, allerdings halten sie uns damit erfolgreich davon ab, Ruhe zu finden. (…) Am frühen Nachmittag wird mit einer ID-Behandlung begonnen. (…) [Es] werden sämtliche Finger- und Handabdrücke genommen, unsere Größe gemessen, Fotos gemacht, unser Pupillenabstand sowie die Augenfarbe registriert und ein elektronischer Fingerabdruck genommen. Die Prozedur zieht sich den ganzen Nachmittag hin. (…) Wir sind angsterfüllt und wenden uns ständig an die „Wärter“, um einen Anwalt zu fordern, nach dem Botschafter zu fragen, uns zu erkundigen, was man uns vorwirft oder wann wir den Richter sehen werden. Am späten Nachmittag werden in die Zelle mit ca. 25 Insassen drei trockene Panini geworfen. Stunden später gibt es einen Keks (…) für jede/n. Gegen 20:00 Uhr werden Männer und Frauen getrennt. Wir Frauen sind ca. 30 in einer Zelle. Da sich viele Pärchen unter den Festgenommenen befinden, ist die Angst um den anderen groß. Als es dunkel wird, gibt es nochmals etwas zu essen: für jeden eine Semmel mit Schinken. Für die Schwerstverletzten (unter anderem ein Mädchen, dem der Oberkiefer mehrmals gebrochen und die Zähne ausgeschlagen wurden) gibt es Fruchtsaft. Als sich einige beschweren, weil sie kein Fleisch essen, erklärt man uns, dass wir froh seien sollten, dass wir überhaupt etwas zu essen bekämen. Es wird dunkel und kalt. Auf dem Gang werden Türen geknallt, man hört hin und wieder Leute unter den Schlägen stöhnen, die Wärter schreien. (…) Ein Scheinwerfer strahlt direkt in unsere Zelle. (…) Gegen Mitternacht beginnen (…) einige in unserer Zelle zu dösen. Dabei handelt es sich vor allem um die Schwerverletzten. Immer wieder wird nach dem Arzt verlangt. (…) Zu den schweren Fällen in unserer Zelle gehört eine ca. 40-jährige Kurdin, die in der Schweiz als anerkannte Asylbewerberin lebt. Sie hat nur eine kurze Hose und ein T-Shirt und friert erbärmlich. Ihr Körper ist, wie die der meisten anderen von blauen Flecken übersät. Zudem leidet sie an einer seltenen Krankheit, welche beständig medikamentös behandelt werden muss. Die Medikamente sind jedoch bereits in der Schule zerstört worden. Wir sagen den Wärtern immer wieder, dass die Medikamente essentiell seien. Allerdings werden wir ignoriert. Gegen 2:00 Uhr werden wir nacheinander zu einer „ medizinischen Untersuchung“ abgeholt. Diese dauert lange, immer wieder schreien Wärter Namen in unsere Zelle. Draußen Lärm, Schreie etc. (…) Wir haben Angst, dass man ein Geständnis von uns erpressen will. Zusätzlich werden die Männer auf dem Gang beständig verlegt, ohne dass wir erfahren, warum. (…)Wir verlangen immer lauter nach Decken gegen die Kälte. Nach einigen Stunden wirft man uns drei [Decken] in die Zelle. Sie stinken und haben Blutflecken. Nach ca. einer Stunde erhalten wir weitere Decken. Wir haben nun zu sechst zwei Decken. Gegen 4:00 Uhr wird die „medizinische Untersuchung“ plötzlich unterbrochen. Der Lärmspiegel vor der Zelle ebbt nicht ab. Erst gegen 5:30 [und] 6:00 Uhr wird die Prozedur wieder aufgenommen. Zuerst sind die Jungs dran. Ich habe den zweiten Tag nicht geschlafen und kein Gefühl mehr. Gegen 10:00 Uhr werden die verbliebenen Frauen (ca. 18) zur Untersuchung geführt. Der andere Teil der Frauen, welche bereits in der Nacht „ untersucht“ worden waren, wird abtransportiert. Ich sehe sie nicht mehr. Bei der „Untersuchung“ werden wir zuerst in einen Raum geführt, in dem sehr viele (ca.15 bis 20) Offizielle anwesend sind. (…) Fingerabdrücke werden genommen, Fotos gemacht. Ich werde aufgefordert, Papiere auf italienisch zu unterschreiben. Ich weigere mich. Man erklärt mir, dass dies noch von großem Nachteil für mich seien werde. Anschließend werde ich in den gegenüberliegenden Raum geführt. Dort muss ich mich nackt ausziehen. Zwei Frauen geben mir die Anweisungen. An einem Tisch sitzt ein Mann (…) und schaut zu. Er stellt mir (…) Fragen, wie, ob ich chronisch krank sei, ob ich Drogen nehme, ob ich verletzt sei oder Tattoos hätte. Ich muss an seinen Tisch treten und mich einmal rundherum drehen, damit er mich begutachten kann. Danach muss ich mein Tampon entfernen (…) und nackt drei Kniebeugen machen. Sämtliche Sachen, die ich bei mir trage, werden mir abgenommen. (?) Anschließend werde ich wieder in eine Zelle geführt. Diese füllt sich langsam mit den anderen Frauen. Schließlich erhält jede ein Essenspaket (…). Gegen 14:00 Uhr werden wir aus der Zelle geholt: jeweils zwei werden an den Handgelenken mit Handschellen aneinandergekettet. Dann werden wir in einen großen Polizeibus, der innen mit einzelnen Gitterzellen ausgestattet ist, gesetzt. (…) [Wir] fahren (…) wahnsinnig schnell. Ich habe Angst, dass wir einen Unfall erleiden werden. Schließlich kommen wir im Gefängnis an. Wir müssen noch eine Weile im Bus sitzen bleiben. Angst macht sich breit, dass wir nun zur Ankunft im Gefängnis nochmals geschlagen werden. Dies hatten uns die Bewacher in Bolzaneto angekündigt. Im Gefängnis werden uns die Handschellen abgenommen, wir werden in einen Raum geführt. Dort sitzen bereits die Frauen von der österreichischen Karawane. (…) [Wir] werden (…) in die Zellen geführt. (…) Am Nachmittag dürfen wir duschen; anschließend schlafen, Abendessen und schlafen. Am nächsten Morgen gibt es Milch und Kaffee zum Frühstück, anschließend Hofgang. Die Betreuerinnen sind zumeist nett und allmählich lässt die ständige Angst ein wenig nach. Trotzdem werden unsere Bitten nach Information, nach einem Telefonat, nach einem Anwalt, nach dem Botschafter und nach angemessener medizinischer Betreuung nicht „erhört“. (…) Ich erhalte ein Telegramm von meinen Eltern, in dem sie mir eine Anwältin empfehlen. Am Mittwoch gegen 10:00 Uhr erscheinen die Richter (…). Am Vortag durften wir in einem Buch den Namen unseres Wahlverteidigers einschreiben. Wir nehmen alle dieselbe, weil wir nur einen Namen kennen. Gegen 19:15 Uhr bin ich als eine der letzten an der Reihe. Ich kann ein bis zwei Minuten mit meiner Anwältin sprechen. Sie rät mir, eine Aussage zu machen. Ich folge ihrem Rat. Gegen 20:00 Uhr werden wir einzeln aus den Zellen geholt, der Richterin vorgeführt und erhalten unsere Haftentlassung. Danach geht es wieder in die Zelle. Gegen 22:00 Uhr werden einige von uns (u. a. ich ) nochmals gerufen. Wir werden von einem Konsulatsangestellten zu unserer Behandlung befragt. Gegen 23:30 Uhr werden wir in einen Polizeibus gesetzt und mit Polizeieskorte nach Pavia auf die Questura gefahren. Dort müssen wir nochmals Dokumente unterschreiben. Schließlich werden wir in denselben Bus wie die Männer gesetzt. Mit unseren Angehörigen, die vor dem Gitter stehen, dürfen wir keinen Kontakt aufnehmen. Gegen 2:30 Uhr verlässt der Bus mit einer großen Eskorte die Questura von Pavia. Die erste Polizeieinheit, welche im Bus anwesend ist, verhält sich korrekt. Als wir jedoch gegen 6:00 Uhr Pause machen (dieser wimmelt von Polizei und wir werden nach wie vor aufs Klo eskortiert), wechselt die Besatzung des Busses. Die neuen Bewacher werden noch einmal sehr unangenehm und drohen uns mit dem Schlagstock. Alte Ängste flammen erneut auf. Gegen 8:30 Uhr erreichen wir die Kaserne der Carabinieri am Brenner. Wir wollen endlich unsere Angehörigen sehen. Schließlich werden wir zum Zug eskortiert und gegen 9:45 Uhr mit dem Zug nach München abgeschoben. Wir sind angeklagt Mitglied einer terroristischen Vereinigung namens „black bloc“ zu sein, wegen illegalem Waffenbesitz und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Zudem haben wir ein 5-jähriges Einreiseverbot in Italien.

(testigo)


Erschienen in: Info-Blatt 53 des Ökumenischen Büros München vomOktober 2001 – www.oeku-buero.de/info-blatt-53/articles/gedaechtnisprotokoll.html.

Überraschung

Jahr: 2001
Bereich: Militanz