Materialien 2001
militant manifesto
Notwendige Vorbemerkung:
Es gab viele Gründe, diesen Text nicht zu verfassen.
Erfordert nicht die aktuelle Situation ganz andere Texte?
Machen wir uns zum Opfer eigener Mythen und fremder Klischees?
Versuchen wir, das Unverrührbare zu mischen?
Gab es das nicht alles schon tausendmal?
Hat es Sinn, es trotzdem zu versuchen?
Die Antwort auf alle diese Fragen kann für uns nur sein:
Ja!
Nach dem „summer of resistance” 2001 und unter dem Medienbombardement eines neuen alten Krieges wollen wir versuchen, freizulegen, was unter dem Schutt der Worte der letzten Monate wertvoll sein könnte. Das Zusammenkommen vieler radikaler Linker vor allem in Genua im Juli 2001 und die heftige Konfrontation mit der herrschenden Gewalt hat viele Diskussionen ausgelöst. Fragen an die radikale Linke, und eigene In-Frage-Stellungen, bekamen viel Raum, meistens leider mehr als die entsprechenden Antworten. Die trotz aller intergalaktischer Kongresse geringe tatsächliche globale Vernetzung wurde deutlich spürbar. Obwohl es in verschiedenen Ländern durchaus ähnliche (selbst-)kritische Auseinandersetzungen über die linksradikalen Politik- und Aktionsformen gab (wie wir teils wissen, teils annehmen), bleiben diese an den Grenzen der Länder und politischen Strömungen meist stehen.
Der Vorschlag des „militant manifesto” ist, miteinander zu diskutieren – über Ländergrenzen und politische Grenzen hinweg. Es geht nicht darum, ein einheitliches politisches Programm zu formulieren. Es geht nicht darum, zu disziplinieren und zu organisieren. Es geht nicht darum, anderen etwas aufzudrücken, sie zu repräsentieren. Es geht darum, der radikalen linken Bewegung mehr politischen Spielraum zu verschaffen, indem sie sich über sich selbst und ihre Aktionsformen austauscht, sich ihrer eigenen Rolle bewusster wird, auch und gerade in ihrem Verhältnis nach außen – denen gegenüber, die sie für sich gewinnen will.
Darum ist der politische Rahmen bewusst sehr weit und unscharf gefasst.
Der Begriff „militant” wird in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich verwendet. Er kann für disziplinierte Parteifunktionäre stehen oder für wilde Straßenkämpferinnen, für entschlossene Sozialdemokratinnen oder einfach für Radikale. Versuchen wir, als kämpferische linksradikale Bewegung uns den Begriff anzueignen!
Wenn wir von der militanten, also kämpferischen, Bewegung sprechen, dann umfasst das viele verschiedene politische Strömungen und Aktionsformen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie
- mehr Gewicht auf Handlung und Wirkung legen als auf Theorie-Arbeit,
- die gesellschaftlich vorgegebenen Spielregeln für politische Opposition bewusst brechen,
- die bestehenden Herrschaftssysteme für nicht reformierbar halten.
Aber uns verbindet noch mehr – oder könnte es:
- Offenheit: Wir sind uns des Nebeneinanders vieler Theorien und Ideologien bewusst. Sie sollen voneinander lernen und andere Wege ausprobieren. Wir verplanen keine Zukunft, ehe wir sie nicht haben.
- Hoffnung: Wir setzen darauf, dass das Neue entsteht, wenn Menschen sich bewegen, rebellieren, ihre Potentiale erkennen – einzeln wie auch kollektiv. Dem gehen wir nicht ohne Ideen, aber ohne Einheitsfront entgegen.
- Aufklärung: Wir handeln aus freiem Willen, nicht aus Pflicht gegenüber Organisationen oder Ideologien. Dazu gehört die Reflektion, woher wir kommen, wohin wir gehen, und: ebenso Menschenrechte und Ethik wie die Analyse der Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse.
Neben all dem sind wir AnarchistInnen, Autonome, KommunistInnen, Antagonistische Linke, Sozialrevolutionäre, Ökos, Punks, RebellInnen, „Globalisierungsgegner”, WagenburglerInnen, Antifas, Entwurzelte, TheoretikerInnen, SyndikalistInnen, Antiautoritäre, Feministinnen, Forschende, Verkrüppelte, Queer, Unversöhnliche …
Wir sind nicht zufrieden mit der Gegenwart. Wir erklären die Zukunft für offen.
1. Unser Ziel: Die Herrschaft von Menschen über Menschen beenden, gleich ob sie ökonomisch, geschlechtlich, ethnisch, religiös ist.
2. Unser Weg: Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Wir sehen darin einen Prozess, der weder von heute auf morgen stattfinden kann noch lokal isoliert, insbesondere nicht in den eng verflochtenen Metropolen.
3. Wir bekennen uns zur Vielfalt der Programme. Die Erfahrung der gescheiterten „großen Pläne” und Vereinheitlichungen des 20.Jahrhunderts führt uns zu einem globalen Prozess der Kommunikation, des Versuchens und Voneinander-Lernens, um eine bessere Welt vorstellbar zu machen. Dazu gehören auch Konflikte, denen wir uns stellen müssen und wollen.
4. Wir anerkennen keine disziplinierende Vorherrschaft einer Partei oder vergleichbaren Organisation. Die „reine Lehre” gibt es nicht.
5. Wir wollen die Macht zersetzen. Wir möchten weder an der heutigen Macht teilhaben – wie manche reformerische Projekte, etwa NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) – noch die Macht für uns erobern – wie die alten hegemonialen Partei-Apparate. Wir misstrauen allen Funktionären, die auf diese Weise vor allem persönliche Macht erobern. Doch wir betrachten die Menschen, die sich dort engagieren, nicht als GegnerInnen, sondern als BündnispartnerInnen, die wir von unserer Idee überzeugen möchten.
6. Selbstbestimmte Basisorganisationen bzw. -gruppen und deren überregionale Vernetzung betrachten wir als beste Grundlage für befreiende Prozesse bei den Einzelnen und in der Gesellschaft insgesamt.
7. Unsere Aktionsformen lassen wir uns nicht diktieren, auch nicht von BündnispartnerInnen. Aber wir respektieren Kritik und das Bedürfnis anderer, ihre eigenen Aktionsformen verwirklichen zu können.
8. Zu unseren Aktionsformen gehört auch die Anwendung politischer Gewalt. Sie ist für uns ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Mittel im politischen Kampf. Solange die revolutionären Kräfte schwach sind, ist politische Gewalt ein symbolisches Mittel der Propaganda und kann keine Machtfrage stellen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern taktisches Mittel. Sie ist nicht identisch mit Militanz – unsere Militanz äußert sich auch in vielen anderen Bereichen, in unserem täglichen Leben, in unserer politischen Arbeit, in Medien, Gruppen, Zentren, usw.
9. Politische Gewalt ist nicht indifferent. Sie schließt eine Vielzahl von Möglichkeiten ein, vom aktiven zivilen Ungehorsam bis zu bewaffneten Aktionen. Sie ist stets an ein gesellschaftliches Umfeld, an den Kampf um Begriffe und Deutungen, geknüpft. Welche Form welcher Situation angemessen ist, müssen diejenigen entscheiden, die sich der Situation gegenübersehen.
10. Die Anwendung politischer Gewalt bedeutet daher die Übernahme einer hohen Verantwortung für sich selbst wie für andere. Sie darf nie terroristisch, d.h. gegen Unbeteiligte gerichtet sein. Unbeteiligte sind für uns aber nicht diejenigen, die das Herrschaftssystem gewaltsam verteidigen, als Polizisten, Politiker oder Militärangehörige; ebensowenig diejenigen, die die Herrschaftsstrukturen noch verschärfen wollen, als Faschisten, Rassisten, Sexisten; und letztlich auch nicht die „oberen Zehntausend”, die Menschheit und Natur in ihrem Privatbesitz wähnen.
11. Wir übernehmen Verantwortung für unsere eigenen Taten, für Erfolge wie für Fehler und Unzulänglichkeiten. Je mehr wir zusammenkommen und uns miteinander austauschen, desto schwerer wird es sein, unsere Aktionsformen durch Provokationen von außen oder eingeschleuste Agenten zu beeinflussen.
12. Wer politische Gewalt anwendet, muss sich stets fragen lassen können – auch von GegnerInnen! – inwieweit das eigene Handeln moralisch und politisch vertretbar ist. Wir wissen: Begrenzte Auseinandersetzungen heute wie revolutionäre Umwälzungen (irgendwann) morgen sind kein Krippenspiel. Sie gehen einher mit Fehlern und Irrtümern, mit Aggression und Opfern. Das spricht aber niemanden davon frei, die eigenen Handlungen am Respekt für das Leben und an der politischen Moral einer möglichen besseren Welt zu messen.