Materialien 2001

Rechtssicherheit für Täter - Unsicherheit für Opfer

Noch keine Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter

Nach wie vor liegen die zugesagten Zahlungen zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiterlinnen auf Eis. Die zahlungspflichtige deutsche Wirtschaft macht vollständige Rechtssicherheit vor eventuellen weiteren individuellen Klagen zur Bedingung, bevor eine einzige Mark ausbezahlt wird. Das kann noch zu dauern. Zu lang für viele ehemalige ZwangsarbeiterInnen, deren Zahl sich Monat für Monat verringert. Verstärkt wird die Bundesregierung aufgefordert, zumindest den von ihr bereit gestellten Teil der Entschädigungssumme ab sofort auszuzahlen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zeigte sich Anfang März „an zügiger Auszahlung interessiert“. Wieder einmal sperrten sich Vertreter der deutschen Wirtschaft gegen einen Auszahlungsbeginn, weil noch immer die von ihnen verlangte hundertprozentige Rechtssicherheit vor weiteren Klagen ausstehe. Beliebt ist mittlerweile das Spiel geworden, die Schuld dafür, dass viele Opfer der Zwangsarbeit unverändert mit leeren Händen dastehen, bei anderen zu suchen: bei US-amerikanischen Gerichten, bei Rechtsanwälten der Opfer, gar bei Opfergruppen selber, die angeblich eine Gesamtlösung verhindern. Gerne verschweigen die Vertreter der Stiftungsinitiative der Wirtschaft, dass sie überhaupt erst auf Druck von Sammelklagen in den USA aktiv wurden, dass auch erst auf neuerlichen Druck einer Gerichtsentscheidung in New York man sich beeilte, dass jetzt wenigstens die zugesagte Summe von 5 Milliarden Mark in Form von Einzahlungen oder Zahlungsgarantien beisammen ist. Wie verträgt sich dieses Verhalten der Wirtschaft und ihrer Stiftungsinitiative mit der behaupteten „moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern“? Ganz abgesehen davon, dass es um Fragen der Moral nicht gehen kann, denn schließlich steht denjenigen, die zwischen 1939 und 1945 zur Zwangsarbeit gepresst wurden, vorenthaltener Lohn nach Recht und Billigkeit zu.

Während des „Dritten Reiches“ leisteten etwa 8 Millionen Menschen im Dienst der deutschen Wirtschaft oder in Städten und Gemeinden Zwangsarbeit. Ab 1940 beschäftigte auch die Stadt München Zwangsarbeiter. „Die Gesamtzahl der während der Kriegsjahre bei der Stadt beschäftigten ZwangsarbeiterInnen ist nicht bekannt, da die einschlägigen Akten lediglich Stichtagserhebungen enthalten.“ So das städtische Direktorium auf eine Anfrage des Stadtrats Bernhard Fricke (David contra Goliath) im Dezember 1999. Im Sommer 1944, zu diesem Zeitpunkt erreichte der Einsatz von Zwangsarbeiter/innen einen Höchststand, weist eine solche Stichtagserhebung 975 ausländische Zivilarbeiter und 523 Kriegsgefangene in Zwangsarbeitsdienst für die Stadt München aus. Auch im Bereich der Privatwirtschaft ist die Quellenlage notgedrungen nicht ganz vollständig. Als gesichert gilt, dass beispielsweise im September 1944 in Münchner Betrieben 34.863 Frauen und Männer Zwangsarbeit leisten mussten. Unter den größten „Bedarfsträgern“, so der damalige amtliche Name für die Betriebe, die von der Zwangsarbeit profitierten, finden sich renommierte Firmen wie BMW, Kustermann, Rathgeber und die Autofirma Opel Häusler.

Die Stadt München hat neben einigen politischen Gesten der Wiedergutmachung im Januar des vergangenen Jahres eine mit 3 Millionen Mark ausgestattete Stiftung zur materiellen Entschädigung von noch lebenden ZwangsarbeiterInnen eingerichtet. Zugleich richtete der Stadtrat an 109 ehemalige ,.Bedarfsträger“, die auch heute weiterhin Teil der Münchner Wirtschaft sind, den Appell, sich am Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft zu beteiligen, sprich: einzuzahlen. Nach Berichten von politischen Initiativen, die auf eine rasche Zahlung drängen, sperren sich auch Münchner Firmen unverändert gegen eine Beteiligung am Stiftungsfonds.

Den überlebenden Opfern des Zwangsarbeitseinsatzes ist mit juristischen Winkelzügen und Spitzfindigkeiten der Wirtschaft nicht geholfen. Sie erwarten mit Recht noch zu Lebzeiten eine materielle Entschädigung. Da nicht abzusehen ist, wann endlich die Wirtschaft zu Zahlungen bereit ist, konzentrieren sich die Bemühungen nun darauf, die Bundesregierung zur sofortigen Auszahlung ihres aus Steuermitteln bereit gestellten Topfes von 5 Milliarden Mark zu bewegen. Immerhin zeigte sich Bundeskanzler Schröder doch „an zügiger Auszahlung interessiert“.


Haidhauser Nachrichten 4 vom April 2001, 1 ff.