Materialien 2002

Ein persönliches Protokoll

12. Oktober: Demonstration gegen Nazi

Sogar die „Bild“ vom Montag, 14. Oktober, schrieb in großen Lettern das Lob an die „3.000 Münchner“ auf ihre erste Seite ähnlich wie andere Zeitungen, doch war es wirklich eine rundum gelungene Demo gegen die Neo-Nazis? Man darf skeptisch bleiben. Zum einen sind da die eigenen Erfahrungen dieses Tages, zum anderen fehlt uns noch das Lob unseres allseits geliebten Stadtoberhauptes, dessen vehementem Aufruf wir doch gefolgt sind. Ach ja, die einstimmige Resolution des Stadtrates gab es ja auch noch, die uns ebenso anhielt, diesmal dem braunen Sumpf zu zeigen, wie wenig erwünscht er ist.

Momentaufnahmen des Tages:

Unsere Gruppe zieht es vor, sich nicht der Kundgebung am Marienplatz anzuschließen, sondern gleich zum Gewerkschaftshaus zu gehen, da die offizielle Route der Neo-Nazis angeblich dort vorbei ziehen soll.

10 Uhr: Vor dem Gewerkschaftshaus sind wider Erwarten ziemlich wenig Demonstranten. In neuesten Informationen ist bereits über eine geänderte Route durch die Bayerstraße die Rede. Wir stehen mit den anderen etwas ratlos herum und beschließen, in Richtung Theresienwiese zu gehen, um zu beobachten, was sich dort tut.

10 Uhr 30: Bevor wir das Gewerkschaftshaus verlassen, sehen wir die ersten Mannschaftswagen der Polizei die Schwanthalerstraße auf und ab fahren, und zeitweise scheint es, als ob der normale Straßenverkehr nur spärlich und blockweise fließt. Weitere Spekulationen über die Route der Glatzköpfe machen die Runde. Dann brechen wir auf in Richtung Theresienwiese.

11 Uhr: Entlang des Bavariarings immer wieder Polizeiwagen. Je mehr wir uns in Richtung südliche Wiese bewegen, desto mehr Mannschaftswagen, aber kaum Menschen.

An der Heinrich-Schmid-Straße stehen circa zwanzig bis dreißig Demonstranten und ein großes Polizeiaufgebot. Alle beobachten die kleine Menschenmenge weit entfernt auf der Theresienwiese. Das Grüppchen dort drüben können keine 1.500 Neo-Nazis sein … vielleicht zweihundert bis dreihundert, bei uns macht sich etwas Erleichterung breit. Aber es werden in der Zeit, die wir dort verbringen, immer mehr. Von der Nordseite der Theresienwiese schreiten jetzt immer öfters Gruppen von dreißig bis vierzig Neo-Nazis in Richtung der schon Versammelten. Die Polizei demonstriert Geschäftigkeit und weist uns an, die Einfahrtsstraße, in der wir stehen, frei zu machen: für uns eine nicht nachvollziehbare Anweisung. Es kommt zu Diskussionen zwischen einigen der inzwischen ca. vierzig bis fünfzig Münchner Bürger und der Polizei. Dauernd bimmeln Handys und geben die neuesten Infos weiter.

11 Uhr 30: Keine Änderung der Situation. Wir beschließen, zurück zum Gewerkschaftshaus zu gehen, da hier mangels Masse nicht im Entferntesten daran gedacht werden kan, den Neo-Nazi-Zug zu stoppen.

Unser Weg zurück in die Schwanthalerstraße gleicht einem Spießrutenlau, an jeder Ecke steht inzwischen Polizei und lässt zwar Leute aus dem Bereich rund um die Theresienwiese heraus, aber niemanden wieder herein. Der Bavariaring ist hermetisch abgeriegelt. Selbst Stadträte, die ja die ausdrückliche Empfehlung zu dieser Demo ausgesprochen habe, dürfen sich nicht mehr frei bewegen. (Wahrscheinlich wusste der „Kollege“ aus Nordrheinwestfalen auch nicht, was eine Stadträtin ist – das heißt dort Stadtverordnete …)

In der Paul-Heyse-Straße kommen uns immer mehr Demonstranten entgegen. Wir bewegen uns anscheinend in die falsche Richtung.

12 Uhr 15: Während einer kurzen Kaffeepause kommt die Nachricht, dass der Neo-Nazi-Zug sich in Bewegung gesetzt hat. Das kleine Café leert sich schlagartig und durch kurze Infos, die schon fast verschwörerischen Charakter haben, wird weitergegeben, dass der Sammelplatz für uns Gegner am Sendlinger Tor ist und die Route abgeändert wurde. „Die gehen über die Lindwurmstraße.“

Wieder hetzen wir weiter. Polizeimannschaftswagen fahren die Strassen hektisch auf und ab, verfahren sich, da sie anscheinend nicht ortskundig sind, und drehen unverrichteter Dinge in einer Sackgasse um. Am Sendlinger-Tor-Platz ist die Menschenansammlung zwar nicht berauschend, aber immerhin. Alles wartet. Die Handys bimmeln und verkünden, „die kommen über die Lindwurmstraße in Richtung Goetheplatz. Dort sind bereits viele vom Gewerkschaftshaus“ – also nichts wie dorthin. Die Lautsprecheranlage des MVV verkündet, das Straßen- und U-Bahnen wegen einer Demonstration den Stachus, Sendlinger-Tor-Platz und den Goetheplatz nicht mehr anfahren.

13 Uhr: Vor der Hauner’schen Kinderklinik ist Schluss. Die Einsatzkräfte stellen sich uns ziemlich rabiat in den Weg. Wer ist hier nicht erwünscht? fragen wir uns.

Nachdem wir uns die ganz Zeit vorkamen wie eine Herde versprengter Schafe, die quer durch die Innenstadt wieder zusammengetrieben werden soll, wird uns nun erklärt, dass hier die Bewegungsfreiheit ein Ende hat. Die Demonstration dort vorne am Goetheplatz sei aufgelöst und so weiter.

Es zeugt meiner Meinung nach schon von äußerster Dreistigkeit und Arroganz, sich hinzustellen und selbstherrlich mit falschen Argumenten friedliche Demonstranten am Weitergehen zu hindern. Man bedenke noch mal: Der Oberbürgermeister persönlich hatte dazu aufgerufen.

13 Uhr 30: Wir stehen vor einem Ring aus gut gepolsterten Legomännchen, die uns zu verstehen geben, wir seien dafür verantwortlich, dass sie ihr Wochenende fern der Heimat Bochum hier im nasskalten München verbringen müssen … „Man sollte die Ewig Gestrigen doch einfach ignorieren …“ – wo das hinführt, wissen wir ja.

14 Uhr 30: Durch „Schleichwegabwanderung“ der Ortskundigen befinden wir uns nun doch am Goetheplatz, wo eine dreiviertel Stunde zuvor ein Demonstrant verletzt wurde. Vor uns die Absperrung, dazwischen 200 Meter Platz, dann wieder eine dicke Polizeikette und gerade noch zu erkennen ein Lastwagen mit weißer Plane: Kundgebungsort der Neo-Nazis für die nächsten 3 Stunden.

15 Uhr: Ein Teilnehmer unserer Gruppe verlässt den Goetheplatz, um mit der U-Bahn zu einem Termin zu fahren. Beim Einsteigen bemerkt er, dass der Wagen (von der Poccistraße kommend) mit Neo-Nazis voll besetzt ist. Während dessen harren wir weiter in der Kälte aus, bis die Neo-Nazis offensichtlich ihre Hetzparolen beendet haben und um ca. 16 Uhr 45 abziehen.

Für wenig Enthusiasmus über das Ergebnis der Gegendemonstration sorgt bei uns der Eindruck, dass die braune Meinungsäußerung auch diesmal von Polizei und Grenzschutz beschützt wurde und der normale Bürger daran gehindert wurde, sich frei zu bewegen.

Nichts spricht gegen eine Trennung der beiden Lager, um direkte Konfrontationen zu vermeiden. Jedoch hatte es den Anschein, als ob es nicht erwünscht gewesen wäre, so viele Gegendemonstranten in Schach halten zu müssen.


Haidhauser Nachrichten 11 vom November 2002, 9.

Überraschung

Jahr: 2002
Bereich: Gedenken

Referenzen