Materialien 2002

Chaos-Tage

Der Rummel ist vorbei, die Festung München steht noch und es fliegen keine Polizei-Hubschrauber mehr über unsere schöne Weißwurscht-City. Zeit, sich mal ein paar Gedanken zu machen, und zwar in die unterschiedlichsten Richtungen …

(Nagel) hat allen gezeigt, wie schnell man aus dem Nichts einen „gemeingefährlichen Terroristen“ konstruieren kann, dessen irre Reden und Video-Erklärungen sogar in den öffentlich-rechtlichen Sendern verbreitet werden. Wie man mir-nichts-dir-nichts aus bundesweiten Lagern ein Polizei-Aufgebot mobilisieren kann, das ein Wochenende lang Kasperle-Spiele vorführen muss und zu den seltsamsten Mitteln greifen, um sich nicht vollkommen lächerlich zu machen. Mit welchen skrupellosen Maßnahmen die moderne Werbeindustrie arbeitet, wie man über das Internet zu Marionetten werden kann, von denen andere profitieren. Ja, Journalisten sind Mörder, das kann einem gar nicht oft genug vor Augen geführt werden! Und es gibt vielleicht auch Leute, denen Nagels Chaostage-Real-Life-Show wirklich zu denken gibt, die jetzt hinterher ihr mediengesteuertes Weltbild kritischer in Frage stellen und auch die gelieferten „Informationen“ hinterfragen – aber ich denke, die Mehrheit ist leider schon zu blöd und abgestumpft und verseucht. Oder habt ihr in irgendeiner Weise was mitgekriegt, dass irgend jemand motiviert worden wäre, sich nun mal wieder mehr um die Entwicklung und Verbreitung einer „Gegenöffentlichkeit“ zu bemühen?

Na ja, auch die Münchner Chaostage waren schon mal von diesem Aspekt her etwas sehr Politisches, denn schließlich passiert Politik fast ausschließlich über die Massenmedien, die wiederum natürlich politisch beeinflusst sind (was zum Beispiel zu sehen war im Bayerischen Fernsehen, wo sich Steffi Ehlinger bemühte, mit ihrem „Bayerische-Bullen-und-Chaostage-Beitrag“ in der Sendung „Reportagen“ – Sendezeit Sonntag 21:30 Uhr einen etwas kritischeren Blickwinkel einzubringen, der allerdings nur Eingeweihten zugänglich gewesen sein dürfte – der Durchschnittsglotzer kann einfach diese subtile Ironie und den verhaltenen Sarkasmus nicht mehr wahrnehmen … Aber deutlichere Kritik unterliegt natürlich der Zensur!).

Zuviel Politik für euch in der heutigen Gaudigesellschaft? Nein, diesmal lass ich euch nicht so einfach davonkommen, das Thema ist mir echt zu wichtig. Ich möchte auch noch mal einen Blick zurück werfen auf Hannover damals, wo der „Chaostag“ im Dezember 82 gegen die sogenannte „Punker Kartei“ der Bullen gerichtet war. Da wehrten sich die Punks dagegen, dass Bullen und Verfassungsschutz eigens eine Kartei für Punker eingerichtet hatten, wo alle erkennungsdienstlich relevanten und unrelevanten Daten wie Beschriftung der Lederjacke, Lieblingskneipen, Freundes- und Bekanntenkreis etc. fein säuberlich registriert wurden für spätere Eventualitäten. Allein wegen Äußerlichkeiten, Kleidung, Frisur, Musikvorlieben, Lautstärke und unbequemer Gesinnung wurden die Leute kriminalisiert und auf ewig gebrandmarkt.

Zwanzig Jahre später im Zeitalter der Computerisierung ist alles noch viel viel schlimmer geworden. Ich kann ehrlich gesagt nicht begreifen, mit welcher Naivität manche Punks an die Sache rangehen. Hey, es ist nicht COOL, wenn die Cops eure Personalien aufnehmen, um euch dann einen Platzverweis auszusprechen – ihr liefert ihnen damit ALLE DATEN frei Haus und legt euch selbst die blödsten Handschellen für euer weiteres Leben an.

Wo bleibt verdammt noch mal überhaupt der Protest gegen solche undemokratischen, verfassungswidrigen Vorgehensweisen der Polizei? Jetzt ist die Wehrkundetagung (mich bringt keiner dazu, die Tatsachen mit dem Titel „Sicherheitskonferenz“ zu beschönigen und zu verschleiern …) noch kein halbes Jahr vergangen, wo ebenfalls unsere Grundrechte einfach vom Tisch gewischt wurden und in München kurzerhand der Notstand und das Demonstrationsverbot ausgerufen, und da ist es tatsächlich möglich, dass zu den Chaostagen das selbe Theater noch mal und sogar noch viel schlimmer inszeniert wird – denn diesmal war ja der Anlass ein quasi total fiktiver (bitte überlegt noch mal kurz, wie einfach es für JEDEN ist, politisch und medienwirksame Propaganda-Veranstaltungen wie diese per Internet bequem zu kreieren und für seine Zwecke auszunutzen). Treffend der Spruch von XY in der Süddeutschen Zeitung, von wegen, „diesmal kriegen wir Punks Hausarrest, das nächste Mal müssen dann alle Türken zuhause bleiben“. Kein Witz! Wer die Presse schon im Vorfeld ein wenig verfolgt hat konnte feststellen, wie gezielt da alle Punks gleichgesetzt wurden mit gewalttätigen Chaoten … Punks, Chaoten, Autonome, Terroristen, Monster, Feinde, Kindermörder, Menschenfresser!!! Alles dasselbe. Und immer wieder Vergleiche mit Genua, Genua, Genua – wobei es den Medien tatsächlich gelungen ist, die Tatsachen absolut umzukehren: statt die   Verbrechen der Polizei in Genua aufzudecken, die Geschichten mit staatlich gedeckten Provokateuren und gezielt randalierenden Rechtsradikalen ans Licht zu bringen und anzuklagen, den Tod von Carlo Guiliani aufzuklären, gelten die Bilder von Genua heute der Öffentlichkeit als Beispiel für ungezügelte Gewalttätigkeit aller Protestler und Grund für härteres Durchgreifen der Staatsgewalt. Genau SO kann man Widerstand im Keim ersticken.

Und damit das Volk trotzdem seine Massenerlebnisse hat, genehmigt und veranstaltet man eben die Bladenights (die im Gegensatz zu „Chaostagen“ regelmäßig in der gesamten City mit 15.000 rollenden Teilnehmern den Verkehr für mehrere Stunden absolut lahm legen – so gesehen erscheint der Antrag der Münchner PDS, den Punks doch auch eine Chaostage-Vergnügungsmeile zur Verfügung zu stellen, nämlich überhaupt nicht mehr absurd) und die Loveparade in der Bundeshauptstadt (was ich mir interessehalber vor ein paar Jahren auch mal ankucken musste – wo hinterher die Straße gesäumt war von plattgeravten Autos und riesigen Müllbergen, meine Beine total zerschnitten von den Scherben der geworfenen Flaschen, Abertausende von jungen Menschen Milliarden von Hirnzellen mit chemischen Drogen weggebritzelt hatten … Ein echtes Erlebnis, sag ich euch, aber konsumsteigernd, fremdenverkehrswirksam und vor allem absolut unpolitisch!).

Die Stimmungsmache und Hetze gegen Punks (oder Autonome oder Asylbewerber oder Hippies oder Andersgläubige oder …) schafft dann genau das Umfeld, wo sich Staat und Polizei nun alles erlauben können, Hausdurchsuchungen, Räumungen, Verbot von Veranstaltungen, Verhaftungen, Misshandlungen etc., ohne dass sich die Öffentlichkeit was scheißt um demokratische Grundrechte, die uns eigentlich allen zustehen, ganz gleich ob wir grüne oder schwarze oder blonde Haare haben.

Die Recherche für diese Kruzefix-Ausgabe hat uns viele wichtige Dinge, Ideen und Geschehnisse wieder eindringlich vor Augen geführt, die heute eine unheimliche Brisanz haben, in diesen Zeiten, wo man eigentlich jeden Tag mit Kotzen beginnen möchte, weil die politische Lage in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt so beschissen ist. Wir sollen unser Kreuz auf einem Wahlzettel machen, wo Scheiße, Kot, Müll und Gülle zur Auswahl stehen und es eigentlich überhaupt keinen Unterschied macht, wer hier in Deutschland regiert, weil die verdammten Amerikaner mit ihrer Übermacht und ihrem ungezügelten Imperialismus sowieso das Schicksal der gesamten Welt in der Hand haben. In diesem Zeiten, wo unter einer „linken“ Regierung Gesetze durchgebracht wurden, an die sich selbst die CDU/CSU nie gewagt hätte, weil sie im Grunde nichts anderes als rechtsradikal sind und vor einigen Jahren noch im Parteiprogramm der Republikaner zu finden waren … Wo sich der totale Überwachungsstaat mit allen technischen Raffinessen längst etabliert hat und die Öffentlichkeit höchstens mit den Achseln zuckt. Wo der Kapitalismus immer absurdere, entartete Formen annimmt, wo Banken über Leichen gehen, wo die perversesten Glaubenskriege eingeläutet werden, unsere Umwelt und unser Essen verseucht, unsere Eltern krebskrank, unsere Kinder beim Psychiater sind. Lasst euch doch nicht einlullen und lasst euch nicht verblöden, sauft und kifft euch nicht den Frust weg, sondern kriegt verdammt noch mal euren Arsch hoch.

Es gibt was zu tun! Und wenn ich mir vorstelle, wie eine Fünfzehnjährige zu ihrem Papa sagt: „Ich kann nicht tatenlos zusehen, ich muss was gegen dieses miese Arschloch Stoiber tun, so wie du damals gegen den Strauß und wie der Opa gegen den Schah und der Uropa gegen den Hitler – und deshalb MUSS ich zu den Chaostagen nach München fahren!“ – dann kann ich das eben nicht belächeln, diesem Mädl gehört unsere volle Solidarität.

Katz Seger


Textbuch zu Katz Seger und Olli Nauerz’ Bairisches Kruzefix. „Mia san dageng!“ Born Bavarian, Bazis, Wuide Wachl, Gratla Bänd, Minga, Mob, Sparifankal, 2002, 9 ff.

Überraschung

Jahr: 2002
Bereich: Militanz

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