Materialien 2003
Jubeldemo
Am Mittwoch, dem 7. Oktober 2003, fand im Rahmen der Aktionstage der „Initiative für ein Münchner Sozialforum“ (www.m-sf.de) eine Jubeldemo für Sozialabbau als Auftaktdemonstration statt.
Einige Journalisten waren verwirrt über die sozialdarwinistischen Aussagen ihrer fröhlichen Interviewpartner, die Menschen am Straßentand haben sich gefreut: rosa gekleidete Cheerleaders, eine fröhliche Menge zumeist junger Menschen demonstrierte bei winterlichem Wetter und unter erheblichem Polizeischutz mit Jubelmusik und Sprechchören wie „Ich, ich, ich AG“, »Eins, zwei, drei, Sozialabbau ist geil“ für die Agenda 2010, Kürzungen bei den Büchereien, Schulen und im sozialen Bereich. Diese satirische Aktion, bei der etwa 150 Menschen teilnahmen, hatte zum Ziel, die Leute zum Nachdenken über die derzeitigen Sozialkürzungen sowohl auf kommunaler als auch auf landes- und bundesweiter Ebene anzuregen. Die InitiatorInnen hoffen, damit auf die zunehmende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland und auf der Welt aufmerksam machen zu können: einseitig wird bei den sozial Benachteiligten und ArbeitnehmerInnen gekürzt, während z.B. sämtliche Münchner große Unternehmen, die auf grund ihrer Finanzstärke im DAX notiert sind, wie etwa die Hypovereinsbank keine Gewerbesteuern mehr zahlen.
Zwei Vorfälle am Rand der Demonstration erscheinen berichtenswert: kurz, bevor der Zug den Marienplatz erreicht hat, lösten sich erst einige wenige, dann immer mehr, um eine Filiale einer US-amerikanischen Fastfood-Kette besonders zu bejubeln: „Hoch dem Konsum!“ skandierte die Menge. Der Zug stockte, wartete, unterstützte das Rufen. Es dauerte nicht lang, bis zwei Mannschaftswagen der Polizei da waren und die Polizisten im Laufschritt mit bereitgehaltenen Schlagstöcken den Eingang des Restaurants stürmten. Aber da war das Jubeln schon zu Ende, und der Zug ging ruhig weiter.
Einem Teilnehmer der Demonstration wurde von Umstehenden sein Transparent entrissen: Das Bibelzitat „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“, stand darauf: Sofort waren Zivilpolizisten zur Stelle, um die Personalien der Störer der angemeldeten Demonstration festzustellen. Es war also ein Vorgang, der möglicherweise in Parallele zu setzen ist mit dem, der die Münchner Bürgergesellschaft gerade bewegt: Die kürzliche Verurteilung von engagierten Mitbürgern, die im vergangenen Jahr zur Erleichterung der gesamten Stadtgesellschaft dazu aufriefen, Nazi-Demonstrationen in München zu verhindern. Die Störer der gestrigen Demonstration waren moralisch im Recht, denn sie verstanden den ironischen Charakter des Transparents im Kontext einer „Jubeldemo“ nicht. Sie traten für die Menschenrechte ein, folgten ihrem Gewissen und verhielten sich gewissermaßen vorbildlich, was Zivilcourage angeht. Dagegen wird die Verurteilung einiger weniger Nazi-Gegner wie Martin Löwenberg, Christiaan Boissevain und anderer aufgrund eines Verhaltens, das im vergangenen Jahr allgemein als vorbildlich gelobt worden war, weithin als Skandal empfunden. Am Rande der Abschlusskundgebung wurde daher zur Klärung dieser Rechtsfrage die Anregung wiederholt, Oberbürgermeister Ude, Charlotte Knobloch und die Mitglieder des Stadtrats sollten Selbstanzeige üben, ebenso wie die anderen Persönlichkeiten, die im vergangenen Jahr dazu aufgerufen hatten, der Nazidemonstration am 12. Oktober (vorigen Jahres) nicht die Straße zu überlassen.
Im Anschluss an die Demonstration wurde im „Feierwerk“ mit einem längeren Programm von politischen Liedermachern und Bands eine Jubelparty veranstaltet.
Münchner Lokalberichte 21 vom 16. Oktober 2003, 10 f.