Materialien 2003

Der schwere Schritt ...

aus meiner sich schleichend erfolgten Vereinsamung zurück in ein fast fremdes, gänzlich verändertes Leben

Wie das kam: Durch Kündigung, 1996. Naja, dachte ich ahnungsloses Huhn, drei Monate Zeit was Neues zu finden. Seit 1962 fast immer gearbeitet im Büro. Zwei Kinderpausen, zweimal „Qualifizierungsmaßnahmen“, kurzfristig arbeitslos, aber dann doch wieder Arbeit gefunden.

1996 hörte ich dann zum ersten Mal: überqualifiziert. Damit konnte ich nichts anfangen. Jetzt weiß ich es leider besser: Zu teuer — zu alt — nicht mehr knackig genug.

Dann aus Geldmangel schleichende Vereinsamung: Nach Parteiversammlung: Gehen wir noch auf ein Glas Wein zum Griechen. Verabredung zum Wochenendausflug besprechen — beides finanziell nicht mehr drin.

Kommst Du mit ins Kino, Kleinkunst, Theater, Ausstellung — das Gleiche in Grün. Langsam fallen mir die Ausreden schwer und bald keine mehr ein.

Hast Du wieder Arbeit? Noch nicht — aber drei Absagen — ein Vorstellungsgespräch und der Optimismus nimmt ab.

Viele Hobbies hatte ich – lesen ist geblieben, obwohl nach und nach Spiegel, Stern, Fernseh- und Tageszeitung abbestellt werden mussten.

Die Einsamkeit nimmt zu. Selbst im Haus — wohne dort seit 1977 — das gleiche Versteckspiel.

Was kommt noch Neues, Interessantes fragte ich mich früher mal – Ich glaube, das war vor 1.000 Jahren. Meine jetzigen Themen (mit Arbeitslosen- und Sozialhilfe):

₪ Hoffentlich kann ich meine Sozialwohnung behalten (mein Wohngeld kriegt das Sozialamt).

₪ Kaufe ich Obst — zwei Liter Milch, eine Schachtel Zigaretten?

₪ Nicht zu viel und zu lange telefonieren!

₪ Licht, Heizung, Warmwasser sparen!

₪ Wetter gut genug zu laufen oder MVV-Streifenkarte benutzen?

Natürlich ist es gesünder zu laufen und nicht zu rauchen. Der große Unterschied ist aber: Will ich oder muss ich!

Das hätte ich in meinen schlimmsten Alpträumen nicht erwartet.

Jetzt noch die öffentliche Sozialschmarotzer-Debatte dazu. Bin ich wirklich einer? Zweifel an mir nehmen zu. Nicht mal im verbliebenen Freundeskreis kann ich darüber reden. Mit wem also?

Über ein Jahr wusste ich von dem vierzehntägig stattfindenden „Erwerbslosen-Treff“ im Westend, aber bis ich es schaffte, mein letztes bisschen Mut zu mobilisieren und hinzugehen zog sich eine sehr lange Zeit hin.

Christine Cheret


Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 103 vom Dezember 2003, 6.

Überraschung

Jahr: 2003
Bereich: Armut

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