Materialien 2003

Goliath prallt auf David

NCI – Netz von Siemens-Beschäftigten gegen Erwerbslosigkeit

Es ist August – Ferienzeit in Bayern und schon wieder passiert’s! Gerade eine Woche nach Bekanntgabe guter Quartalszahlen für die Siemens AG, die im letzten Geschäftsjahr ihr zweitbestes Ergebnis in der 150-jährigen Firmengeschichte erzielte, und nach der Ankündigung, das laufende Geschäftsjahr mit einem Nettogewinn von 2,2 Milliarden Euro + x abzuschließen, verschärft Siemens nochmals das Klima bei der Restrukturierung und beim Personalabbau: Im Bereich IC Mobile (Quartalsergebnis 36 Mio. Euro) sollen bis zum Herbst 2004 weitere 2300 Arbeitsplätze wegfallen, davon 500 in Deutschland.

Das war vor einem Jahr fast auf den Tag genauso. Mitte August 2002 gibt die Betriebsleitung im Betrieb München/Hofmannstraße (MchH) bekannt, dass innerhalb von sechs Wochen von 6.600 Arbeitsplätzen 2.300 abgebaut werden sollten. Die Siemens AG ging davon aus, dass sich die Belegschaft aufgrund fehlender Erfahrungen und des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrads (2 %) nicht wehren kann. Es entwickelte sich jedoch ein beispielloser Widerstand, der in der Bildung des Beschäftigtennetzes NCI (Network, Cooperation, Initiative) gipfelte.

Der Betriebsrat

Der Betriebsrat (BR) schweigt nicht. Er führt keinen Schmusekurs mit der Geschäftsleitung, sondern bezieht von Anfang an klar Position für die Beschäftigten. Er informiert die Belegschaft offen, diskutiert mit ihr, geht an die Öffentlichkeit. Die IG Metall ruft zu Demos auf. Die beiden Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber und Leo Mayer, beide IG Metall, haben daran großen Anteil. Die Art und Weise, wie sie die Geschehnisse vermitteln, erzeugen Vertrauen in der Belegschaft und schaffen die Basis für das Beschäftigtennetz NCI.

Die Positionen von BR und Geschäftleitung sind konträr: Die Geschäftsleitung fordert Aufhebungsverträge und eine externe Beschäftigungsgesellschaft (beE) – für viele eine Rutschbahn in die Arbeitslosigkeit. Wer sich beidem verweigert, dem soll betriebsbedingt gekündigt werden. Wer bereit ist, in die externe Beschäftigungsgesellschaft zu gehen, soll auf dem Leiharbeitermarkt verliehen werden. Neben der beE betreibt Siemens zusammen mit anderen Unternehmen eine Leiharbeiterfirma; in die sollen die Mitarbeiter aus der beE eingebracht und an Siemens zurückverliehen werden. Das Modell heißt in der Belegschaft »Mitarbeiter-Recycling-Verfahren«.

Das Gegenmodell des Betriebsrats lautet Arbeitszeitverkürzung nach dem VW-Modell basierend auf dem Bayrischen Manteltarifvertrag. Es ist rechnerisch in Ordnung, und seine Wirkung wird vom Arbeitgeber nie widerlegt. Es steht lediglich seinem Ziel entgegen, den Leiharbeitermarkt zu etablieren. Die Verhandlungen stocken. Die IG Metall ruft zu einer Demonstration vor der Konzernzentrale auf. Etwa 3.000 Teilnehmer kommen. Das bringt den Durchbruch.

Nach zähem Ringen kann der Betriebsrat mit Hilfe verschiedener Maßnahmen, von denen Arbeitszeitverkürzung eine ist, die Zahl der abzubauenden Mitarbeiter von 2.600 auf 1850 reduzieren. Er schließt einen Interessenausgleich und einen Sozialplan ab, der das Finanzielle regelt; dabei handelt es sich um ein Optionenmodell. Zur Wahl stehen: eine interne, max. 24 Monate dauernde beE, ein Aufhebungsvertrag oder die betriebsbedingte Kündigung. Egal wie die Beschäftigten sich entscheiden, sie erhalten auf jeden Fall eine Abfindung.

Der BR hat darauf verzichtet, sich an der Sozialauswahl zu beteiligen und eine Namensliste vorzulegen. Damit ermöglicht er den Beschäftigten die Rechtmäßigkeit der Kündigung voll und ganz vom Arbeitsgericht überprüfen zu lassen. Würde er einer Namensliste zustimmen, könnte das Gericht diese nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit prüfen, ihr aber nicht widersprechen; er kann schwerlich einer Kündigung widersprechen, der er selber per Namensliste zugestimmt hat. Die Chancen auf eine erfolgreiche Kündigungsschutzklage sinken damit stark, ganz abgesehen davon, dass die Betroffenen in dem Fall keine Weiterbeschäftigung und somit keine Gehaltsfortzahlung bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses verlangen können.

Das Beschäftigtennetz NCI

Am 11. November 2002 kommt der Tag der Blauen Briefe. Aus einer E-Mail: »Die Schockwelle läuft wie nach einer Explosion unsichtbar, aber von jedem spürbar durch unsere und uns bekannte Nachbarabteilungen. Der Betrieb ist heute paralysiert; viele wissen es, dass sie betroffen sind, viele haben noch keine Nachricht. Die, die damit gerechnet haben, sind in der Lage Erste Hilfe zu leisten, reden, reden, reden … Die, die nicht damit gerechnet haben, laufen in einer Art Trance- und Schockzustand herum, bei denen, die halb damit gerechnet haben, arbeitet das Gehirn auf Hochtouren, ›es denkt‹, sozusagen von selbst, und kann nicht aufhören zu denken. Eine ganze betroffene Abteilung (darunter viele zwischen 48 und 54 Jahre) hat die Arbeit fallen lassen. Teilweise wurden ganze Gruppen fast vollständig aufgelöst. Unsere existiert praktisch auch nicht mehr. Es ist als ob ein Leonidensturm über uns hinwegfegt ist oder ein Meteor eingeschlagen hat.

Dann kommt wie aus dem Nichts das Beschäftigtennetz NCI, die organisierte Betroffenheit der Beschäftigten. Am Anfang steht eine schlichte E-Mail – kein wohldurchdachtes Programm: »Ich möchte euch daher einladen, uns zu treffen, um miteinander zu reden, Fragen zu stellen, Fragen zu sammeln, und Antworten zu geben.« Die erste Gruppe des NCI-Netzes ist gegründet. Das Besondere ist: Sie kommen, sprechen über Gefühle. Das Bedürfnis, aus der Anonymität herauszutreten, ist sehr groß.

NCI, organisiert von den Beschäftigten selbst, schafft die Möglichkeit für gemeinsame Diskussionen. Durch NCI sind die Beschäftigten überhaupt erst in der Lage, sich gegenseitig über ihre Rechte zu informieren. Die Handlungsoptionen der Betriebsvereinbarung können diskutiert und schnell unter vielen Menschen verbreitet werden. Eine Gruppenberatung des BR hingegen hätte nur ein paar Menschen erfasst, die bald wieder auseinander gelaufen wären. Entscheidend ist der Einsatz des Internet, die E-Mail, später die Homepage (www.nci.migm.de), worüber Informationen schnell verbreitet werden können. Viele Menschen kommen so auf den gleichen Wissensstand. Insbesondere der Vortrag einer Kollegin über die Chancen einer Kündigungsschutzklage ermuntert viele, den Weg der Kündigung zu gehen.

NCI steht plötzlich dem Plan des Arbeitgebers entgegen, den geplanten Stellenabbau leise durchzuführen. Soziale Auswahl wird thematisiert. NCI ist nicht leise, sondern laut und geht auf die Straße. Ohne NCI und ohne einen BR, der sich konsequent hinter die Belegschaft stellt, wären viele – wie von Siemens vorgesehen – in die beE gegangen, nur wenige hätten geklagt. Entscheidend war und ist das Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsrat und Belegschaft.

Etwa 400 Kolleginnen und Kollegen entscheiden sich für die beE, nur wenige stimmen einem Aufhebungsvertrag zu. Am 7. Januar 2003 flattern dem Betriebsrat dann auf einen Schlag 366 Kündigungen auf den Tisch. Nach dem Gesetz hat er eine Woche Zeit, ihnen einzeln zu widersprechen. Eine Fristverlängerung lehnt die Geschäftsleitung ab. Mit unglaublichen Einsatz und wohl durchdachter Vorbereitung schafft der Betriebsrat das Unmögliche. Er widerspricht 359 Kündigungen qualifiziert und termingerecht. Seine Hände sind nicht durch eine Namensliste gebunden.

Die Siemens AG aber hat die gesetzlichen Bestimmungen der Sozialauswahl grotesk verletzt: Zwei Drittel der Gekündigten sind älter als 45 Jahre; die Hälfte genießt gesetzlichen oder tariflichen Kündigungsschutz. Ein Drittel sind Frauen. Nach einer Demonstration vor der Hauptversammlung rudert Siemens zurück; es werden nur 200 Kündigungen ausgesprochen.

Von Anfang an steht bei NCI der Mensch mit seinen Gefühlen im Mittelpunkt. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Art.1 GG) – das ist ein zentrales Anliegen von NCI, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, denn die Geschäftsleitung beginnt Druck auf die Beschäftigten auszuüben, nimmt den PC weg, organisiert um, versucht die Betroffenen zu isolieren, zermürben, demoralisieren. NCI und BR haben alle Hände voll zu tun, die Mobbingmaßnahmen abzuwehren, die Kolleginnen und Kollegen seelisch zu unterstützen.

Ziele von NCI

NCI fragt im Netz ab, ob bekannt gewordene Fälle von Mobbing oder Gesetzesverstöße an mehreren Stellen auftreten, so lässt sich schnell herausfinden, ob diese systematisch oder nur punktuell sind. Das sind Informationen aus der Belegschaft, die nie zum BR gedrungen wären, aber wichtig für dessen Arbeit sind. Die schnelle Verbreitung von Informationen an alle betroffenen Beschäftigten ermöglicht es, gezielt und gemeinsam zu handeln. Strategien können schnellstens umgesetzt werden.

Ein anschauliches Beispiel ist die Begleitung zu den Prozessen und die Berichterstattung darüber. Bezeichnend ist die Aussage eines Richter des Arbeitsgerichts München: »Das ganze Haus ist wieder voll. Die ›Prozessreisenden‹ von Siemens sind wieder da. Der ›Reisetrupp‹ verstopft alle Gänge. Es ist immer wieder das gleiche: wenn die Firma Siemens verhandelt wird, tun sich ›Menschenmauern‹ auf, die sich auf dem ›Kriegspfad‹ bzw. auf dem ›Rechtspfad‹ befinden.«

Der Betriebsrat wird von vielen Seiten angegriffen, vor allem dafür, dass er keine Auswahlkriterien vereinbart und nicht auf hohe Abfindungssummen gedrängt, sondern die Verteidigung der Arbeitsplätze in den Mittelpunkt gerückt hat.

Die Beschäftigten aber unterstützen ihren Betriebsrat mit einer Resolution, in der es u.a. heißt: »Wir empfinden es mutig und solidarisch mit der Belegschaft, dass der BR sich nicht vor den Karren der Geschäftsleitung spannen lässt und durch einen Schmusekurs deren unlautere Ziele unterstützt. Er hat nicht aus Bequemlichkeit oder Unfähigkeit, Konflikte auszuhalten, Meinungsverschiedenheiten mit der Geschäftsleitung auszutragen, die Mitarbeiter um des lieben Friedens willen verkauft. Aus Berichten von Mitarbeitern aus anderen Betrieben wissen wir, dass dies keineswegs selbstverständlich ist … [Ein Betriebsrat] entscheidet mit, ob und wie das Gleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhalten bleibt, oder ob es sich durch einen Schmusekurs zuungunsten des Arbeitnehmers und damit auch der Gesellschaft neigt. Der BR MchH ist dieser Verantwortung bisher gerecht geworden.«

NCI ist heute ein Netz mit einer funktionierenden hochdemokratischen Struktur und minimaler Organisation, in dem etwa 600 Beschäftigte organisiert sind. Eine stetig wachsenden Anzahl von Verbindungen nach außen zu anderen Netzwerken, Firmen und ihren verschiedenen Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Medien setzen den Vernetzungsgedanken konsequent fort.

Das Geheimnis von NCI ist, dass die Kolleginnen und Kollegen selbst definieren, was gut und schlecht für sie ist, was und wie sie handeln wollen. Es gibt niemanden, der bestimmt, wo es lang geht, die Kolleginnen und Kollegen bestimmen das selbst. Aktionen werden angeboten, manche umgesetzt, manche verpuffen, manche Vorschläge und Hilfsangebote werden von ein paar Kollegen angenommen, manche von vielen. Aber genau diese Freiheit des Handelns und der Entscheidung ist die Basis der Solidarität. Man handelt, weil man überzeugt ist, und vor allem kann man sehr schnell auf veränderte Situationen reagieren.

NCI versorgt die Mitglieder mit für sie interessanten Informationen, ermöglicht Kommunikation, schafft Raum für Begegnung und bietet Hilfe zur Selbsthilfe.

NCI will Einfluss auf die für Arbeitnehmer relevante Gesetzgebung (z.B. KSchG) ausüben.

NCI prangert »Unternehmerwillkür« an und kommuniziert diese über die Medien und die eigene Homepage in der Öffentlichkeit.

Die Erfolge vor dem Arbeitsgericht geben der Belegschaft recht. Fast alle Weiterbeschäftigungsprozesse, die den Kollegen Arbeit und Gehalt bis zum endgültigen Urteil sichern, werden gewonnen. Die Kündigungsschutzverfahren, die bisher verhandelt wurden, wurden glatt gewonnen.

Von 2600 zu entlassenen Arbeitnehmern sind heute 400 in der beE, 260 haben den Betrieb verlassen durch Aufhebungsvertrag, normalen Weggang oder Versetzung, 200 sind gekündigt – mit den besten Aussichten den Kündigungsschutzprozess zu gewinnen. Etwa 740 Arbeitsplätze konnten bisher erhalten werden. Können die 200 Gekündigten wieder in den Betrieb zurückkehren, dann hat der nunmehr ein Jahr dauernde Widerstand 940 Arbeitsplätze gerettet.

Die im NCI organisierten Beschäftigten haben in dem einen Jahr einen enormen Bewusstseinswandel vollzogen. Vor dem Stellenabbau identifizierten sie sich durchweg mit den Zielen der Geschäftsleitung. Ihre Motivation war hoch. Für viele war es persönlich wichtig, ein Projektziel zu erreichen. Dazu waren sie bereit, »ohne Ende« zu arbeiten. Arbeitnehmerrechte waren weitgehend unbekannt.

Heute sind sich die NCIler bewusst, dass es Sozialabbau gibt, dass Arbeitnehmerrechte verteidigt werden müssen, dass die Globalisierung zulasten der abhängig Beschäftigten in aller Welt gehen. Und NCI kämpft dagegen, sucht Politiker auf, diskutiert mit ihnen, organisiert Podiumsdiskussionen und sucht die Verbindung mit anderen großen und kleinen gleichgesinnten Netzwerken, um mit dazu beizutragen, den Widerstand gegen eine unmenschliche Gesellschaft auf eine breite Basis zu stellen, mit dem Ziel ein weitreichendes Netzwerk entstehen zu lassen.

Die Hofmannstraße sollte das Vorzeigemodell für einen neuen Arbeitsmarkt werden. Doch plötzlich gab es mit NCI einen neuen Prototypen für Widerstand von unten. Der Geschäftleitung ist NCI und seine Allianz mit dem BR und der IG Metall ein Dorn im Auge – ein ernst zu nehmender Gegner, den man bisher nicht einschüchtern konnte.

Jack-Peter Trent


SoZ – Sozialistische Zeitung 9 vom September 2003, 9.