Materialien 2003

„Stinksaure Beschäftigte“

Ein Gespräch mit ver.di-Sekretär Georg Wäsler über Ladenöffnungszeiten, Arbeitsbedingungen und Tarifverhandlungen im Einzelhandel

WESTEND NACHRICHTEN: Der Einzelhandel in der Innenstadt jubelt über die neuen Öffnungszeiten am Samstag. Jubeln ihre Mitglieder auch?

Georg Wäsler: Die Beschäftigten – nicht nur unsere Mitglieder – sind stinksauer. Wenn eine Verkäuferin am Samstag bis zwanzig Uhr arbeiten muss, ist das für sie eine echte Spätschicht. Die Abschlussarbeiten dauern oft bis 21.00 oder 21.30 Uhr, danach muss sie noch nach Hause fahren.

WN: Ein Argument für die längeren Öffnungszeiten sind die Umsatzsteigerungen.

Georg Wäsler: Das Gegenteil ist der Fall! Obwohl seit 1996 die wöchentliche Öffnungszeit um 20 Stunden auf 84 Stunden gestiegen ist, stagnieren die Umsätze bzw. gehen sogar zurück. Um ein Beispiel von der Schwanthalerhöhe zu geben: beim Karstadt-Einrichtungshaus auf der Theresienhöhe gingen die Umsätze um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück. Die längeren Öffnungszeiten werden durch extreme Flexibilisierung der Arbeitszeiten der Beschäftigten vom gleichen oder weniger Personal bewältigt. Ein weiteres Beispiel: dieselbe Filiale verringerte im gleichen Zeitraum das Personal exakt um zehn Prozent. Bekamen die Beschäftigten früher am Anfang des Jahres für das ganze Jahr ihren Arbeitsplan, hat sich das jetzt vollkommen verändert. Die Leute werden auf Abruf für vier, fünf Stunden reingeholt und wieder nach Hause geschickt, wenn nichts los ist. Es gibt überhaupt keine Sicherheiten mehr, was die persönlichen Arbeitszeiten betrifft. Davon sind vor allem die Teilzeitbeschäftigten (60 Prozent der Beschäftigten) betroffen.

WN: Was sind die Auswirkungen auf die Läden, die bei den Öffnungszeiten mit den Großen nicht mithalten können?

Georg Wäsler: Die Stadtteilversorgung wird im allgemeinen schlechter werden. Der Abgang des gemischten Einzelhandels wird sich verstärken. Das ist eine konsequente Folge dieses Wettbewerbs; Aber dabei bleibt es nicht – durch die Liberalisierung der Ladenschlusszeiten nimmt der Druck auf die Beschäftigten in öffentlichen und privaten Dienstleistungsbereichen wie Kindergärten, Bibliotheken, Banken usw. auch weiter zu. Die gesamte Arbeits- und Lebenszeit wird flexibilisiert.

WH: Ihr führt gerade Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im Einzelhandel …

Georg Wäsler: Zur Zeit gibt es keine tarifliche Vereinbarung über die Zeit an Samstagen zwischen 16 und 20 Uhr. In der Praxis sieht es so aus, dass viele Betriebsräte unter Vorwegnahme der Tarifergebnisse betriebliche Vereinbarungen getroffen haben. Als Zuschläge für diese Zeit haben die meisten zwanzig Prozent, einzelne mehr vereinbart. Unser Ziel bei den Tarifverhandlungen sind fünfzig Prozent Aufschlag ab 16 Uhr für alle Kolleginnen und Kollegen, unabhängig davon, ob sie Vollzeit oder Teilzeit arbeiten. Gesetzlich haben die Beschäftigten im Einzelhandel- seit der letzten Novellierung des Ladenschlusses -Anspruch auf zwölf freie Samstage im Jahr. Wir fordern das doppelte, d.h. mindestens zwei freie Samstage im Monat.

WH: Und die Löhne?

Georg Wäsler: Die Unternehmer drängen auf einen Tarifabschluss mit langer Laufzeit – 24 Monate oder mehr – mit mehreren Nullmonaten. Die Angebote der Unternehmerseite sind meilenweit von unseren Forderungen – 50 Cent mehr die Stunde – entfernt. Sie bieten um die 0,9 bis 1,2 Prozent mehr, was für uns nicht annehmbar ist. Die Forderung von Verdi, die Löhne um einen festen Betrages zu erhöhen, soll verhindern, dass der Unterschied zwischen niedrigen und hohen Löhnen immer größer wird. Deshalb fordern wir auch einen Mindestlohn von 1.500 Euro brutto für eine vollzeitbeschäftigte Kollegin.

WH: Wie hoch sind die Löhne zur Zeit?

Georg Wäsler: Eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin ohne Ausbildung im dritten Tätigkeitsjahr bekommt pro Monat knapp 1.332 Euro brutto, eine gelernte nach sechs Berufsjahren 1.915 Euro Brutto.

Das Interview führte Münir Derventli.


Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 99 vom Juni 2003, 2.