Materialien 2003

Brunch statt Brotzeit

Die Villa Flora an der Hansastraße war eine beliebte Wirtschaft mit Biergarten. Im Zuge der Aufwertung der Schwanthalerhöh’ durch das Neubauviertel Theresienhöhe sowie durch viele hochwertige Arbeitsplätze z.B. im Campanile waren gewisse Änderungen unvermeidlich. So konnte die aufgewertete Gastronomie den Verzehr mitgebrachter Brotzeiten natürlich nicht mehr gestatten. Auch das Speise- und Getränkeangebot erfuhr eine deutliche Erhöhung der Preise.

Leider konnte die Presse, leider konnte auch ein betonköpfiger Bezirksausschuss diese notwendi-
ge Modernisierung nicht ausreichend würdigen. Es gab rückwärtsgewandte, traditionalistische Beschwerden.

Unsere Gesellschaftskolumnistin MvP wies in einem Schreiben an die Betreiber der Wirtschaft diese fortschrittsfeindliche Besitzstandswahrung zurück und bekannte sich zur Agenda Wirt-
schaftsgarten 2003. Wir dokumentieren gerne diese notwendige Stellungnahme.

„Lieber Herr Bräu von Traunstein, liebe Wirtsleutchen,

nachdem die Frau Thalgott in ihrer unendlichen Güte das Stadtviertel Westend aufwertete, wurde es höchste Zeit, auch die sogenannten Biergärten zu modernisieren. Was war das auch früher für ein gräuslicher Anblick: Leute in uuunmöööglichem Outfit, die so unappetitliche Dinge wie Leber-
käse, Emmentaler oder eine Speise (?), die sie Preßsack nannten, auspackten. Der Brotzeithummer konnte unsereinem im Halse stecken bleiben.

Schließlich bezahlt man ja nicht fast eine Million Eurerl für eine bescheidene Drittwohnung auf der Theresienhöhe, um dann in solchem Umfeld boarische Tradition und Lebensfreude zu zelebrieren. Ich würde doch auch niemals ohne mein Armani-Dirndl (mit vui Holz vor der Hüttn) einen Bier-
garten betreten. Mein Lebensabschnittsgefährte darf dieses nicht ohne seine Hirschlederne tun, oder er kann was erleben. Doch da tauchten Menschen in der Mode von vorgestern auf, mit Hosen von vorvorgestern, in Jeans gar. Abscheulich.

Richtig undankbar sind diese Leute aus dem Westend. Da wertet man ihr Viertel auf, und sie wol-
len so leben wie vorher. Wollen ihre Brotzeiten mitbringen und auch noch essen wie zu alten Zei-
ten. Sollen sie doch statt ihrem Leberkäs auf Mahagoni geräucherten Wildlachs speisen – das hätte doch Stil! Stattdessen verderben sie anständigen Leuten aus der Society den Appetit. (Neulich sagte die liebe Lydia zu mir: ‚Diese Münchner haben uns eigentlich gar nicht verdient. Wenn nicht der liebe Christian und seine Edith wären …’)

Wer nicht mit der neuen Zeit gehen will, soll doch einfach wegziehen. Das wäre sowieso das Beste. Das neue Viertel den besseren Leuten. Aufwertung auch bei der Bevölkerung.

Lassen Sie sich nicht irre machen, liebe Wirtsleuterln (mein boarisch ist schon fast perfekt). Weiter so!

Tschüsserl
Ihre Mausi von Protzenburg“


Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’ 99 vom Juni 2003, 6.

Überraschung

Jahr: 2003
Bereich: Lebensart

Referenzen