Materialien 2003

Das Schweigen brechen

Das Internetportal „Lesbian-Violence“

Das Schweigen brechen – genau das hat das Projekt „Lesbian-Violence“ gemacht. Lesbian-Violence ist ein Internetportal, das sich als Kontaktstelle lesbischer Frauen sieht, die lesbische Gewalt erleben mussten. Die Münchnerin Jenny Wilding und die Kölnerin Bigi Weiler haben das regional unbegrenzte Projekt im Juni 2002 ins Leben gerufen – und einen großen Stein ins Rollen gebracht. – Hier nun ein sehr ehrlicher und mutiger Text von Bigi Weiler zu Projekt, Geschichte, Funktion und Sinn von „Lesbian-Violence“. Die Rosa Liste Zeitung bedankt sich dafür ganz herzlich!

„Männer demütigen Frauen; Männer schlagen Frauen; Männer vergewaltigen Frauen; Menschen prügeln Menschen; Menschen prügeln Kinder; Menschen prügeln Lesben; Menschen prügeln auf Homosexuelle ein.“ Tagesthemen in den Nachrichten überall auf der Welt. Immer mal wieder – als kleine Fußnote oder als großer Aufmacher auf Seite Eins. Ein Bild, das wir kennen, nicht wirklich schätzen, das uns entsetzt, aber mit dem wir leben.

Vielfältig sind nicht nur die Facetten derer, die Gewalt ausüben. Vielfältig sind die Gewaltfacetten als solche. Nur wenigen Menschen ist es wohl möglich all diese Facetten mit all ihren Perversionen wirklich zu ergründen.

Als bereits im Jugendalter vergewaltigte Frau sind mir einige Varianten der Gewalt durchaus bekannt. Durch das Erlebte und Verarbeitete ebenso wie durch viele geführte Gespräche mit anderen Opfern, bzw. Überlebenden, habe ich einen kleinen Einblick in die oben genannten Perversionen gewonnen. Verstehen werde ich Handlungen, die mit egal welcher Gewalt einher gehen, nie.

Irgendwann in meinem Leben, sollte ich dazulernen. Eine neue Erfahrung in Sachen Gewalt sollte sich mir aufdrängen. Und mit dieser Erfahrung beginnt auch irgendwie die Geschichte von www.lesbian-violence.de.

Vor etwas mehr als einem Jahr, lebte eine Frau an mir ihr Gewaltpotenzial aus. In der Vergan-
genheit führten wir eine Beziehung, aus der ich seinerzeit flüchtete. Ich flüchtete, eben weil diese Beziehung schon von Brutalität ihrerseits und großer Gewaltbereitschaft geprägt war. Gewalt auf psychischer und physischer Ebene, mit der ich nicht leben konnte und wollte. Ich zog fort und kam erst fünf Jahre später in meine Stadt zurück. Fünf Jahre, die nicht zum Vergessen reichten, denn meine „Ex“ erfuhr, dass ich wieder da war, suchte mich auf und steigerte sich in einen Gewalt-
rausch, wie ich bisher noch nie davon gehört oder gelesen habe. In zwei Stunden schlug sie mein Leben zu Kleinholz und befriedigte sich selbst dabei auf höchstem Niveau.

Es begann das, was ich bereits als Jugendliche erlebt habe. Erfahrungen sammeln, auf taube Ohren stoßen, nicht ernst genommen werden. Eine Frau, die eine Frau zu Brei schlägt? Nein, das kann nicht sein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Oder umgekehrt? So suchte ich Hilfe, Infor-
mationen und Rat in Büchereien, Bibliotheken und im Internet. Das Ergebnis meiner Recherche ist niederschmetternd. Vereinzelte Fußnoten, ein paar Artikel von Frau Constance Ohms – das war’s. Lesben gegen Gewalt … Gewalt im „üblichen Sinne“. Lesben, die sich gegen die Gewalt von Männern stellen, die sich mit der Gewalt an Homosexuellen beschäftigen, die aufschreien gegen sexuellen Missbrauch. Aber Gewalt in den eigenen Reihen? Nein, sie kommt nicht vor in den Köpfen der Mitmenschen, der Lesben, der Öffentlichkeit.

So beschloss ich einen Aufruf in einem Messageboard einer großen Community zu starten. Kurz fragte ich an, ob es irgendwo da draußen im www vielleicht noch jemanden gibt, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat und sich austauschen möchte. Ich war mir durchaus im Klaren, dass ich damit im „lesbischen Dreck“ wühlte und sicher nicht nur positives Feedback erhalten würde. Dennoch hat mich, hat uns, die Flut an Mails erschreckt. Innerhalb von zwei Stunden erhielt ich dutzende Mails. Frauen, die laut aufschrieen, weil endlich jemand da war, den das Thema interessiert. Aber auch Lesben, die mehr oder weniger drohend auftraten, um weitere Recherchen zu verhindern. „Was soll das? Willst du den Heteros endgültig eine Waffe in die Hand geben?“ „Wunder dich nicht, wenn du eins auf die Schnauze bekommst, alleine für den Aufruf kann ich meine gute Schule vergessen.“ Etc. etc.

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Ich hielt es mit Aschenputtel und sortierte die Mails nach Inhalt und Sinn.

Und so riefen wir die Internetpräsenz Lesbian-Violence ins Leben. Eine private Homepage für Betroffene, für Frauen, für Menschen, die sich informieren möchten. Und wir ahnten immer noch nicht, in welch ein Wespennest wir gestochen haben. Innerhalb weniger Stunden stand das grobe Gerüst der Seite und ging online. Innerhalb der ersten drei Tage erreichte uns eine Flut von Dankes-Mails und die ersten Erfahrungsberichte.

Innerhalb weniger Tage vervielfachten sich die Zugriffe auf die Seite. Und auch wenn viele Frauen noch im Hintergrund bleiben, sich erst einmal vorsichtig an uns und die Seite herantasten – die Homepage verzeichnet einen enormen Zulauf. Nach nur 4 Wochen Internetpräsenz verzeichnete der Counter den 1000sten Hit auf die Seite. Ein Ergebnis, das uns einerseits zeigt „Wir sind auf dem richtigen Weg“. Andererseits macht es traurig und wütend. Traurig, weil es diese Präsenz überhaupt geben muss. Wütend, weil sich vorher noch niemand sonst an ein solches Projekt herangewagt hat.

WIR SIND NICHT ALLEINE.

Das wissen wir jetzt.

Die Definition von Gewalt fasste eine unserer Userinnen treffend zusammen:

Stell dir vor, eine Person kommt auf dich zu und du musst den Moment festlegen, in dem dir diese Person zu nahe kommt … MIT EINEM STOPP. Wenn die Person diese Grenze überschreitet, dieses Stopp ignoriert … dann beginnt GEWALT

Wünsche haben wir viele:

Wir wünschen uns, dass das Problem der GEWALTigen Lesbischen Beziehung wahr genommen wird.

Wir wünschen uns, dass Frauen, die sich mit dem Thema in Diplom- oder Doktorarbeiten befassen, von ihren Mentoren unterstützt und nicht niedergemacht werden.

Wir wünschen uns, dass es für Anwälte endlich klar wird, dass es auch in einer Beziehung zwischen zwei Frauen den Tatbestand der Vergewaltigung gibt.

Wir wünschen uns, dass wir von den Communities und der restlichen Lesbenwelt wahr- und ernstgenommen werden.

Wir wünschen den Frauen, die sich an uns wenden, dass sie erkennen, dass sie nicht alleine sind.

Wir wünschen uns, dass die Frauen, die ihre Gefühle und Argumente nur mit Prügel, Schläge, Demütigungen zeigen können, spüren, NICHT MIT UNS!

Wir wünschen uns einfach einen Raum, wo wir sein können – wo die Frauen sein können – wo sie verarbeiten können, helfen können, Unterstützung finden.

Wir wünschen uns einfach ein gewaltfreies Leben – auch in unseren Beziehungen.

Wir wünschen uns, dass die Lesbenberatungen, Frauenbeauftragten etc. sich mit diesem Thema auseinandersetzen.

Sollte es da draußen eine Anwältin geben, die sich an das Thema heranwagt und uns noch unterstützen möchte. Bitte mailde dich.

Sollte es da draußen eine Psychologin geben, die den Frauen mit Rat und Tat zur Seite stehen mag – bitte mailde dich.

Das Projekt lesbian-violence.de ist eine Privatinitiative von Bigi Weiler und Jenny Wilding. Das Projekt fällt wohl unter den Begriff „low budget“, was sich nicht nur auf den finanziellen Rahmen bezieht, sondern auch auf die Zeitmöglichkeiten.

Wir sind sicher nur eine kleine Oase in der großen Wüste der Gewalt. Die Oase soll wachsen. Und sie kann am Besten gedeihen, wenn man sich für sie interessiert, über sie spricht, sie über die Grenzen des eigenen Tellerrandes hinaus bekannt macht.

Ein Ziel können und wollen wir nicht wirklich festlegen. Wir wissen nicht, was aus dem Projekt wird, auch wenn der momentane Zustand vieles erahnen lässt. Aber wenn wir nur einer Frau das Gefühl geben können, dass es noch mehr Frauen gibt, die das Problem haben, dass sie nicht alleine ist… dann ist viel erreicht.

© Bigi Weiler


Zeitung rosa liste münchen. Nachrichten der schwul-lesbischen WählerInnen-Initiative München 29 vom Februar 2003, 8 f.

Überraschung

Jahr: 2003
Bereich: Schwule/Lesben

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