Materialien 2004

Wir sind hier nicht zum Spaß

Eindrücke vom Sicherheitskonferenz-Wochenende

Auf dem Münchner Max-Joseph-Platz vor der Oper treffen sich am 5. Februar 2004 – es ist ein Donnerstag – wunderliche Gestalten. Die Uhr zeigt zwischen ein und zwei Uhr nachmittags. Ein Sarg steht da. Vier Männer in Tarnanzügen mit Stahlhelmen auf dem Kopf nähern sich von einem in der Nähe abgestellten Lieferwagen und stellen sich neben den mit einer schwarz-rot-goldenen Flagge bedeckten schwarzen Sarg. Einige Fotografen laufen herum, Touristen. Dann nähert sich einer mit der Maske des Bundesverteidigungsministers, dann ein weiterer im Kardinalsgewand. Schließlich erscheint der bayerische Ministerpräsident, auch er eine Maske. Ein Mann steht neben der Gruppe und hält ein Bild in Händen. Zu sehen ist hier der gefallene Soldat.

Wolfram Kastner spricht mit zwei Polizisten über den Ablauf der Veranstaltung. Dann fährt ein Polizeiwagen mit Blaulicht voran, die Gruppe setzt sich langsam in Bewegung. Das Ziel ist der Odeonsplatz. An der Spitze der „Kardinal“ und die beiden „Politiker“, dann der Sarg, getragen von vier „Soldaten“, dahinter das Bild des Toten und die Trauergemeinde mit schöner Witwe.

Der Aufgang zur Feldherrnhalle ist von einer Kette Bayerischer Bereitschaftspolizei abgesperrt. Die Truppe nimmt vor dieser Kulisse Aufstellung. Journalisten fotografieren und filmen. Offenbar rea-
giert die Polizeiführung schnell. Sie zieht ihre Beamten ab. Man will nicht „mitspielen“.

Eine Auflage ist, dass erst bei Veranstaltungen ab sechzig Personen ein Lautsprecher eingesetzt werden darf. Die Gruppe besteht aus sechsunddreißig gezählten Teilnehmern. Nach einigen Ver-
handlungen ist es dann doch möglich, dass der Lautsprecher benutzt werden kann. Der Bundesver-
teidigungsminister, gespielt von Günter Wangerin, spricht:

„Verehrte Angehörige des Soldaten Franz Maier, Verehrte Trauergäste, Soldatinnen und Solda-
ten!

Vor einigen Monaten habe ich Weisung gegeben, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes auch am Hindukusch tapfer zu verteidigen. Wie Sie wissen, geschieht das bereits in nachahmens-
werter Weise.

Der Soldat Franz Maier ist dort in Ausübung seiner Pflicht gefallen. Der Dank des Vaterlandes ist ihm gewiss.

Ich möchte Ihnen, liebe Angehörige, mein Beileid aussprechen, zugleich aber versichern, dass Ihr geliebter Sohn, Ehemann und Bruder nicht umsonst von Ihnen gegangen ist.Er wusste genau, was er verteidigte:

ein Land nämlich, dessen politische Führung sich nach der Kapitulation des Dritten Reiches unverzüglich daran machte, die Reste des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zu beseitigen mit der Folge, dass kein einziger ehemaliger Richter des NS-Regimes jemals mehr Recht sprechen konnte,

dessen Armee ausschließlich Generäle einsetzte, die sich den demokratischen Traditionen immer in ganz besonderer Weise verpflichtet fühlten,

das gemäß den Beschlüssen von Potsdam jede totalitäre und antidemokratische Bestrebung bereits im Keim erstickte und seit Kriegsende einen entschiedenen Kampf gegen einen neuerlichen Antisemitismus geführt hat, so dass Juden bei uns heute ohne Angst in Frieden leben können,

ein Land, das durch diese Verdienste gewappnet und moralisch legitimiert, den Völkern auf dem Balkan den lange ersehnten Frieden brachte und nun weltweit im Namen der Humanität mit der Waffe in der Hand seine segensreiche Tätigkeit ausübt, einer Hand, die mehr die eines Arztes ist als die eines Militärs, was die Bürger Belgrads bezeugen können.

Vergessen wir nicht: der Auftrag unserer Armee ist es auch und ganz besonders, der Verteidi-
gung christlichabendländischen Wertgefüges deutsches Gepräge zu verleihen, was soviel heißt, am Vorabend einer europäischen Verfassung unsere Tugenden Fleiß, Sauberkeit, Ordnung und auch Gehorsam – jawohl – hinaus in die Welt zu tragen, den Begriff Globalisierung also im be-
sten Sinne mit Inhalt zu füllen.

Verehrte Anwesende

Lassen Sie mich noch anmerken: Franz Maier ist auch für ein Land gefallen,

in dem es dank engsten solidarischen Zusammenwirkens zwischen Regierung, Opposition und Arbeitgeberverbänden gelungen ist, die Existenzgrundlage der Menschen ein für alle mal zu si-
chern,

ja, in dem durch ein einzigartiges Reformwerk die Arbeitsplätze so sicher sind wie nie zuvor

das sich in vorbildlicher Weise um die Gesundheit der Menschen kümmert, und dabei sogar soweit geht, auf umweltfeindlichen Zahnersatz zu verzichten,

das nicht zuletzt auch alten Menschen jenseits des Rentenalters die   Möglichkeit einer weiteren beruflichen Tätigkeit in Aussicht stellt.

Liebe Anwesende, dafür starb Franz Maier.

Wir danken ihm, wir danken den bereits vor ihm in aller Welt gefallenen dreißig Soldatinnen und Soldaten und denen, die mit Sicherheit folgen werden.

Verehrte Angehörige, soeben erreicht mich eine wichtige Nachricht: Vertreter der Unternehmen Siemens, DaimlerCrysler, BMW und Krauss Maffei haben mich gebeten, Ihnen ihr aufrichtiges Beileid auszusprechen. Ich komme diesem Wunsch gerne nach. Ich kann es sehr gut verstehen, dass die Herren heute nicht selbst unter uns sein können, weil sie genau in diesem Moment mit der Sicherung der Arbeitsplätze befasst sind.

Zum Abschluss lassen Sie uns alle stille werden und noch einmal dem alten Lied vom guten Ka-
meraden lauschen.“

Einsam und traurig verhallt das Trompetensignal. Dann lastet Stille, und der Verteidigungsmini-
ster, der Kardinal und der Ministerpräsident schreiten gemessenen Schritts hinüber in die Resi-
denz. Die Polizei sorgt freundlich dafür, dass die Gruppe unbehelligt den Platz verlassen kann. Übrig bleiben einige Touristen. Auf Flugblättern wird dafür geworben, sich am kommenden Tag ab 16 Uhr an Orten rund um den Bayerischen Hof zu Protesten zu versammeln. Hier tagen Waffenlobbyisten, Militärstrategen, Außen- und Kriegsminister bei der sogenannten NATO-Sicherheitskonferenz.

Es sind etwa eintausendfünfhundert Menschen, die am Freitagnachmittag an den vier Kundge-
bungsorten Lenbachplatz, Platz der Opfer des Nationalsozialismus, Odeonsplatz und Schrammer-/
Theatinerstraße zusammenkommen.

Das Aufgebot martialisch ausgestatteter, behelmter, bewaffneter, im geschlossenen Pulk ange-
tretener Uniformträger – es soll sich um viertausend Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet handeln – erinnert an die Prätorianergarden der Diktatoren in südamerikanischen Bananenre-
publiken, wo der Ausnahmezustand schon zum Alltag geworden ist. Wer an einer der Kundge-
bungen teilnehmen will, wird gefilmt, drückt sich durch Kontrollen, in denen Taschen gefilzt und Personalien aufgenommen werden, steht schließlich in einem von Absperrgittern umzäunten Käfig, von vielen Augen und vielen Kameras genauestens beobachtet.

Ein älterer Mann spricht einen der Polizisten, der in der Absperrkette steht, an. Er fragt ihn, was er davon halte? Ob es sich bei den Demonstranten denn um Kriminelle handle. Der Polizist erwidert barsch: „Ich stehe hier nicht zum Spaß da!“ Der Mann erinnert sich, dieselbe Antwort vor mehr als fünfundzwanzig Jahren von einem Vopo gehört zu haben, als er über die Grenze in die DDR fuhr.

Die PDS ist für die Kundgebung am Platz der Opfer des Nationalsozialismus zuständig. Sie hat einen eigenen Infostand aufgebaut, ältere Parteimitglieder verteilen Flugblätter und müssen hilflos zusehen, wie die Situation eskaliert. Bereits zu langsames Überqueren der Straße wertet die Polizei als Blockadeversuch, sie schiebt und prügelt die Menschen auf den Gehweg zurück. Dann gelingt tatsächlich einer größeren Gruppe für kurze Zeit, die Straße zu sperren, so dass ein Autokonvoi nicht weiterfahren kann. Die Polizei räumt mit Schlägen und Fußtritten sofort und schließt etwa hundert Menschen in drei Kesseln ein. Sprechchöre sind zu hören: „Lasst die Leute frei!“ Greif-
trupps jagen Einzelne über den Platz und schleifen sie schließlich hinter ihre Linien. Schulkinder stehen mit erhobenen Händen da. Ein Mann bricht nach einem Schlagstockhieb über den Schädel bewusstlos zusammen. Er wird von Beamten in einen Hauseingang geschleppt und dort liegenge-
lassen.

Unter den Bedingungen der permanenten Bedrohung ist eine Versammlung nur schwer durchzu-
führen. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen spricht und erläutert die neue Nato-Militärstrategie, deren Verteidigungslinien in Zukunft im Ausland lägen. Dies seien Angriffskonzepte. Er aber sei gegen Besatzungen, gegen Kampftruppen, gegen Krieg. Die besten Soldaten seien die, die ihren Dienst beenden.

Ein Zwischenruf wird laut: „Dasselbe gilt auch für Polizisten!“

Pflüger schließt sich dieser Meinung an. Der Bundesverteidigungsminister strukturiere die Bundeswehr zu einer international agierenden Interventionsarmee um. Dagegen dürfe die Bundeswehr laut Grundgesetz das Land lediglich verteidigen. Pflüger wirbt für die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit der Streitkräfte, fordert den Rücktritt der für die brutalen Polizeieinsätze politisch Verantwortlichen, sieht einen neuen heißen Frühling mit einer neuen breit agierenden Opposition aufziehen und ruft zum Aktionstag gegen den Krieg am 20. März auf. Kaum hat er seine Rede beendet, wird er fortgeschleppt und erst nach zwanzig Minuten wieder freigelassen.

Man hört Stiefelgetrappel, hört Befehle und Geschrei, sieht stöhnende Verletzte, sieht, wie Prote-
stierende brutal weggezerrt werden, erfährt, dass mehr als zweihundert Kundgebungsteilnehmer verhaftet worden sind, dass manche bis zu zweieinhalb Stunden in einem Kessel gestanden haben, getreten, geschlagen, mit Pfefferspray behandelt, wüst beschimpft. Man steht vor tiefgestaffelten Polizeikordons, und trotzdem lächeln viele Demonstranten. Ist es Unsicherheit und Angst? Kann man die Gewalttätigkeit nicht anders aushalten? Ist es das Gefühl, etwas bewirkt zu haben, denn man hat offensichtlich den Staat in Bewegung gesetzt?

Ist es der Mut dessen, der im tiefsten Wald zu pfeifen beginnt?

Rundherum laufen Kameras, rundherum stehen Zivilbeamte. Auf den Dächern der umliegenden Häuser liegen Scharfschützen in Stellung. Beobachter erkunden die Lage. Der Feind ist nicht zu unterschätzen. Kriegspiel oder schon Krieg? Hat nicht die Weimarer Demokratie mit ihrer Ge-
setzgebung, ihrer Wideraufrüstung von Militär und Polizei und mit der Modernisierung der Staats-
gewalten alles für die Machtübergabe an die Nazis vorbereitet!?

Der Zugang zum Tagungshotel führt über die Maffeistraße. Ihre Erweiterung zum Promenadeplatz sichern zwei Wasserwerfer. Wenn ein Konvoi schwerer Limousinen, vorne und hinten von Polizei-
fahrzeugen abgeschirmt, heranprescht, schieben sich die beiden grünen Kolosse zur Seite und machen Platz, um sich sofort wieder zusammenzuschieben. Nicht ganz so wichtige Persönlichkei-
ten hetzen zu Fuß ins Tagungshotel. Zivilbeamte, deren Aufgabe der Personenschutz ist, halten da nicht immer Schritt.

Eine nachdenkliche, überdimensionierte Gestalt sitzt auf einem Sockel vor dem Loden Frey. Einige wenige Passanten haben es hierher bis zur letzten Absperrung geschafft. Eine ältere Dame schüttelt den Kopf. „Was für ein Aufwand für eine Privatveranstaltung. Und das von Steuergeldern!“ Ein Mann meint zu ihr: „Was wollen Sie!? Stellen Sie sich vor, diese Polizisten wären alle arbeitslos. Dann hätten wir endgültig Bürgerkrieg, denn diese Arbeitslosen können zuschlagen!“

Am Samstag Mittag spricht unter anderem Claus Schreer: „Wenn die Herrschenden Krieg führen, nennen sie das Friedensmissionen, und wenn sie Kriegsabsprachen treffen, nennen sie das ‚Sicher-
heitskonferenz’.“ Dann formieren sich über fünftausend Menschen zur Demonstration. Seiten-
transparente sind verboten, solange ihre Unterkante nicht mindestens zwei Meter über dem Boden verläuft. Der Grund: Die Polizei will freie Sicht für ihre Kameras und möglichst schnell zugreifen. Schon nach wenigen Metern beginnt das Gerangel, Stoffbahnen mit Parolen werden weggerissen.

Die Demonstranten laufen in einem bis zu drei Reihen starken Spalier von Polizisten. Fast der ganze Zug ist eingekesselt, ein Kessel in Bewegung. Für Außenstehende erscheint dies wie ein Haufen Krimineller, die abgeführt werden. Ein Entfernen aus dem Zug ist nicht mehr möglich. Immer wieder stockt der Marsch. Wo der Weg durch parkende Autos verengt wird, kommt es zu Scharmützeln. Man ruft „Haut ab, haut ab!“ Jedem ist klar, dass er als nächster geschlagen oder festgenommen werden kann.

Kurze Zeit vor den ereignisreichen Tagen hatte sich der stellvertretende Polizeipräsident über „Berufsdemonstranten“ geäußert, welche von Krawall zu Krawall reisen würden. Man werde mit diesen nicht gerade zimperlich umgehen. Inmitten einer Gruppe Autonomer geht ein grauhaariger Mann, der einen Button mit der Aufschrift „Sicherung der Arbeitsplätze von Berufsdemonstranten“ trägt. Wieder stößt an der Ecke Zwinger/Frauenstraße ein Pulk von Polizisten in die dichtgedrängt stehende Menge, um jemanden herauszugreifen. Der Mann wird dabei gegen eine Absperrung ge-
schleudert. Ihm ist nichts passiert, aber sein Button ist weg. Dann bewegt sich der Zug langsam weiter, steht dann wieder.

Plötzlich taucht ein offensichtlich verlorengegangener Polizistenhelm auf. Der ältere Mann schlägt vor, die Trophäe mitzunehmen. Eine Frau könne ihn doch unter ihre Kleidung schieben, um ihn als „Schwangere“ vom Ort der Handlung zu entfernen. Aber es wird nicht lang diskutiert. Die martiali-
sche Kopfbedeckung geht in Flammen auf. Eine schwarze Rauchwolke verschwebt über den Köp-
fen. Es stinkt. Einer der etwas weiter wegstehenden Polizisten kommentiert trocken: „Da brennt die Dummheit eines Kollegen“.

Auf den Gehwegen der Sonnenstraße befinden sich mehrere Passanten. Der Demonstrationszug ist noch viele hundert Meter entfernt. Die Straße ist bis zum Lenbachplatz leer. Patrouillierende Zivil-
beamte sind an den dünnen Kabeln zu erkennen, die aus ihren Ohren führen.

Ein Punker mit roten Haaren ist für einen Moment vom Bürgersteig auf die Straße gelaufen. Er wird sofort festgehalten, ein Polizist befiehlt ihm, mit gestreckten Händen am Polizeifahrzeug Aufstellung zu nehmen. Ein Passant ruft „Der hat doch nur ganz kurz die Straße betreten!“ Auch dieser Mann wird sofort zum Auto geführt. Ein Beamter lässt den vorgezeigten Personalausweis fallen und befiehlt dann dem Mann, diesen wieder aufzuheben. Währenddessen werden dem Punker die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Drei Zivilbeamte nähern sich langsam dem Fotografen dieser Szene. Dieser hat erfahren, dass andere Fotografen genötigt worden sind, ihre Bilder zu löschen. Er schließt sich einer Gruppe unbeteiligter Passanten an und verlässt hurtig den Tatort.

Wie groß muss die Angst derer sein, die dieses martialische Aufgebot in Marsch gesetzt haben! Gedanken schießen einem durch den Kopf: Eine Gesellschaft, die alles daran setzt, dass Meinun-
gen, die nicht dem herrschenden Verständnis entsprechen, neutralisiert werden, eine Gesellschaft, die zulässt, dass gepanzerte Kampfmaschinen ihre Kinder wie Schwerverbrecher eskortiert, auf sie einprügelt, sie einschüchtert und demütigt, ist nicht wert, dass man sich für sie einsetzt. Sie hat keine Zukunft mehr; ihr Ende wird schon sichtbar.

Der Zug der „Kriminellen“ nähert sich dem Stachus. Mitten aus der Menge winken einem Freunde verstohlen zu.

Auf dem Lenbachplatz spricht zum Abschluss das Aktionsbündnis gegen die NATO-Kriegskonfe-
renz:

„No pasarán – sie kommen nicht durch! No pasarán – damit haben wir unseren Protest gegen die sogenannte Sicherheitskonferenz in eine Tradition gestellt, die historisch an viele praktische Versuche anknüpft, für eine antimilitaristische, emanzipatorische und manchmal auch antipa-
triarchale Gesellschaft zu kämpfen. Wir sagen no pasarán und stehen vor den Absperrgittern und Wasserwerfern der Staatsmacht, die uns daran hindern sollen, unseren Protest an den Ta-
gungsort im Bayerischen Hof zu tragen. Aber wir haben diese Parole nicht nur für einen Tag gewählt.

Noch 2001 vermerkte die Münchner Lokalpresse abschätzig, dass nur ein kleines Häuflein auf dem Promenadeplatz gegen die Nato demonstrierte. Als im Jahr darauf unter dem Motto ‚von Genua nach München’ die antimilitaristische Bewegung und die Gegner und Gegnerinnen der kapitalistischen Globalisierung zu gemeinsamem Widerstand aufriefen, wurde kurzerhand alles verboten – den Protest konnten sie jedoch nicht verhindern! Ihr Ziel, die Tagung wieder in Ruhe stattfinden zu lassen, haben sie trotz Repression, Diffamierung und Spaltungsversuchen, seitdem nicht mehr erreicht. No pasarán!

Im spanischen Bürgerkrieg richtete sich diese Parole der Revolutionäre gegen die Faschisten und deren militärische Unterstützung durch die deutsche Legion Condor. In Nicaragua richtete sich no pasarán gegen den Angriff auf die Revolution durch die US-Blockadepolitik und den von den USA finanzierten Contra Krieg. Heute ist der richtige Ort für die Parole No pasarán genau hier vor dem Bayerischen Hof, wo deutsche Politiker und Militärstrategen die Konsequenzen aus der Shoa und dem deutschen Vernichtungskrieg endgültig ad acta legen wollen und wieder offen deutsche Weltmacht- und Kriegspolitik planen. No pasarán – gegen EU Militärmacht und deut-
sche Kriegspolitik!

Der Ort des Sprechens über Krieg und Frieden, über Sicherheit und Unsicherheit ist immer der Ort der Sieger und sie definieren die Perspektive. So bedeutet Sicherheit im herrschenden Diskurs immer die Sicherheit derer, die etwas zu verlieren haben. Gemeint ist niemals Sicherheit für Ob-
dachlose vor Gewalt, Hunger und Kälte, sondern die Sicherheit der Villen vor unerwünschtem Besuch. Sicherheit meint auch nicht den Schutz von Flüchtlingen vor Folter, Vergewaltigung und Not, sondern die Abschottung vor Menschen, die Ansprüche erheben und Rechte einfordern.

Sicherheit bedeutet nicht das Recht auf eine sorglose Existenz, Wohnung, Bildung und gesell-
schaftliche Mitbestimmung, sondern die Privatisierung von gesellschaftlichem Reichtum, die Umverteilung von unten nach oben, den Abbau von Arbeiter- und Arbeiterinnenrechten, den Schutz von Produktionsstandorten vor Streiks, den ungehinderten Zugang zu Märkten und den Zugriff auf Rohstoffe. Diese sogenannte Sicherheitspolitik soll Ruhe in den Metropolen herstellen und sie soll eine permanente Situation der Angst produzieren, ein Szenario der Bedrohung, das die Menschen zu Anpassung und Zustimmung bringen soll. Dieses Szenario der Angst müssen wir kollektiv durchbrechen – no pasarán!

Vor zwei Tagen verkündete der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Ackermann, dass sich der Gewinn im letzten Jahr verdreifacht hat – er hat nicht gesagt, wie viele Menschen dafür ausgebeutet wurden und ihren Arbeitsplatz verloren haben. Es ist also nicht so, dass kein Geld vorhanden wäre, sondern es ist eine Frage der gesellschaftlichen Prioritätensetzung, wofür es verwendet wird. Die Logistik und die Planungen des privaten Treffens im Bayerischen Hof verschlingen öffentliche Gelder. Die Verwirklichung dieser Planungen, die Anschaffung neuer Waffensysteme, der Unterhalt der Eingreiftruppen und nicht zuletzt die Militäreinsätze selbst, verschlingen noch mehr Geld.

Spart euch euren Krieg! Solange nur ein Cent für Dinge ausgegeben wird, deren einziger Zweck ist, zu zerstören, kommt uns nicht mit ‚den Gürtel enger schnallen’. Gegen die eindimensionale Logik des Sparzwangs und gegen den sozialen Kahlschlag befinden sich bereits Tausende Mitar-
beiter und Mitarbeiterinnen der Tageszeitungen im Streik und in der Elektro- und Metallindu-
strie wird gerade mit Warnstreiks begonnen. Am 2./3. April wird europaweit zu Aktionen in den Betrieben und zu zentralen Großdemonstrationen mobilisiert.

Wenn wir heute wieder No pasarán sagen, dann muss das auch bedeuten, sich mit dem Scheitern vieler linker Befreiungsversuche kritisch auseinander zu setzen. Und das heißt vor allem auch, mit den sexistischen Geschlechterrollen und patriarchalen Machtverhältnissen zu brechen – denn viele Kämpfe für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung sind gerade daran ge-
scheitert.

Es bedeutet aber auch weltweit Widerstand von unten zu organisieren, um eine andere Gesell-
schaft durchzusetzen. Es geht darum die Verhältnisse real zu verändern und zu gewinnen. Damit zum Beispiel alle Menschen, die vor Hunger, Folter, Krieg und sexistischer Ausbeutung fliehen, ‚durchkommen’ durch die Festung Europa. Dies ist keine Frage der Moral, sondern eine Frage realer Machtverhältnisse.

Arundhati Roy hat in ihrer Rede auf dem WeltsoziaIforum in Mumbai gesagt: ‚Feiertagsproteste stoppen keine Kriege. Radikaler Wandel wird nicht durch Regierungen ausgehandelt, er kann nur durch Menschen erzwungen werden.’

In diesem Sinne: No pasaran!“

Günther Gerstenberg


Rote Hilfe e.V. (Hg.), Der Umgang des Staates mit den Protesten gegen die Sicherheitskonferenz 2004 in München, München (2004), 10 ff.