Materialien 2008

Versöhnungskirche Dachau

Wortbeitrag Versöhnungskirche Dachau am 13. Januar 2008
zur Finissage der Ausstellung mit Gedenken an die verfolgten Kinder
in der NS-Zeit und heute
von Ernst Grube

Am 9. November vergangenen Jahres wurden, wie jedes Jahr am Platz der von den Nazis 1938 zerstörten Synagoge in München, Herzog-Max-Straße, die Namen von 3.000 von den Nazis ermordeten Münchner jüdischen Bürger verlesen. Unter ihnen die Namen vieler Kinder, die mit mir im jüdischen Kinderheim in der Antonienstraße in München Schwabing gelebt haben. Sie sind mit dem ersten und zweiten Transport am 20. November 1941 und Anfang März 1942 deportiert und von den Nazis ermordet worden. Mit ihnen verbindet mich die Erinnerung an das gemeinsame Leben im Kinderheim und an die zunehmende Feindseligkeit der Menschen, die wir erlebten, wenn wir das Heim verließen.

Besonders schmerzlich ist mir heute noch die Erinnerung an die Momente des Wartens, des Abschieds und der Trennung, bis dann der Bus kam zur Deportation unserer Freunde in eine für uns damals ungewisse Zukunft. Wir wissen heute, dass die Kinder des ersten Transportes zusammen mit annähernd 1.000 Münchner jüdischen Menschen fünf Tage später in Kaunas ermordet wurden, die Kinder des zweiten Transportes kamen nach Theresienstadt.

Das Kinderheim wurde im März 1942 aufgelöst und wir zurückgebliebenen, etwa 13 Kinder von ursprünglich 46 Kindern, kamen in das „Judenlager Milbertshofen“ und später in die „Heimanlage für Juden“ nach Berg am Laim.

Die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der deutschen Faschisten hat schon nach der Machtübernahme 1933 mit Verboten, Verleumdungen, Erniedrigungen und Gesetzen, wie 1935 mit den Nürnberger Gesetzen, begonnen.

Ermutigt durch das Schweigen der Bevölkerung wurden die Repressalien gegen Juden, Zigeuner und andere Minderheiten immer brutaler und haben nach der Reichspogromnacht 1938 und mit Beginn des zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 an Schärfe zugenommen.

Wir Kinder waren von dieser Entwicklung besonders betroffen. Schon im November 1938 wurden wir infolge des Abbruchs der Synagoge in München von den Eltern getrennt. Durch den Beschluss der Münchner Stadtverwaltung, den jüdischen Besitz in der Herzog-Max-Straße zu enteignen, wurden wir aus unserer Wohnung vertrieben, d.h. obdachlos. Nachdem alle Bemühungen unseres Vaters, eine Wohnung zu bekommen, gescheitert waren, brachten uns die Eltern, meinen Bruder Werner, unsere kleine Schwester Ruth und mich, am 7. November 1938 in das Kinderheim nach München-Schwabing.

Waren wir auch im jüdischen Kinderheim gut aufgehoben, so hat dies das Leben in der Familie, besonders für unsere damals vier Monate alte Schwester Ruth, nicht ersetzt. Im „Judenlager Milbertshofen“ und in der „Heimanlage Berg am Laim“, in denen wir über ein Jahr bis März 1943 eingesperrt waren, gab es Besuche der Eltern selten und dann auch nur für ein oder zwei Stunden. Die jahrelange Trennung der Familie hat sich auch noch nach der Befreiung negativ ausgewirkt. Was es heißt mit einem gelben Stern gekennzeichnet auf der Straße zu gehen, nur in bestimmten Geschäften einkaufen zu können, bei Fliegerangriffen nicht in den öffentlichen Luftschutzbunker zu dürfen, immer mit der Möglichkeit der Deportation leben zu müssen, kann ich zwar erzählen … aber die wirkliche Belastung wird kaum jemand empfinden.

Was es heißt fast keine Lebensmittel zu bekommen, nicht in die Schule gehen zu dürfen und als jüdisches Kind oder Jugendlicher von den Nachbarskindern bzw. Jugendlichen abgelehnt zu werden, kann nur der nachvollziehen, der es erlebt hat.

Wenn es in unserer Ausstellung hier unter den Bildern u.a. heißt „Petr Fischl wurde am 8. Dezember 1943 nach Theresienstadt deportiert und fand am 8. Oktober 1944 in Auschwitz den Tod“, so ist dies eine für mich unverständliche Verharmlosung. Die Kinder fanden in Auschwitz nicht den Tod – sie wurden bestialisch ermordet und ihre Leiden und seelischen Marter können zwar durch ihre erschütternden Texte angesprochen werden, sie sind aber für den heutigen Zuschauer nicht zu erfassen.

Meine Geschwister, ich und unsere Mutter durften überleben. Wir Kinder als so genannte Geltungsjuden hatten mehrere Schutzfaktoren, die gerade noch bis Ende des Krieges ausgereicht haben: Das war das jüdische Kinderheim mit den wunderbaren Betreuerinnen, die wir Tanten genannt haben, da war unser nichtjüdischer Vater, der sich trotz enormen Drucks durch die Gestapo nicht scheiden hat lassen. Ohne ihn hätten wir nicht überlebt, dass wir erst im Februar 1945 in das KZ-Theresienstadt verschleppt und am 8. Mai 1945 von der „Roten Armee“ befreit wurden.

Dieses Überleben ist für uns Juden natürlich ein Geschenk. Es ist für mich aber auch eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Menschen, an die ermordeten Kinder und Jugendlichen wach zu halten, den heutigen Rassismus aufzuzeigen und nach Möglichkeit zu bekämpfen.

Anlässlich von Gedenkveranstaltung zu den Verbrechen der Nazis – wir werden es am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Faschismus wieder erleben – betonen viele verantwortlichen Politiker immer die Einmaligkeit dieser Verbrechen und dass sich diese nicht mehr wiederholen dürfen. Wenn es auch an der Einmaligkeit der industriellen Ermordung von Juden, Sinti und Roma keinen Zweifel gibt, so können wir doch vor dem vorhandenen Rassismus, der vor allem auch Kinder betrifft, nicht die Augen verschließen. Zum einen ist es der tägliche wütende Antisemitismus und Rassismus der Neonazis und zum anderen erleben wir einen Rassismus, der von staatlicher Seite gewollt ist und gefördert wird.

Die Grundlage für diese Politik ist unter anderem der bis zur Unkenntlichkeit geänderte Paragraph 16 des Grundgesetzes, der das Asylrecht im Sinne der Überlebenden der Konzentrationslager geregelt hatte. Nach diesen Änderungen gibt es bis auf wenige Ausnahmen kein Asylrecht in der Bundesrepublik Deutschland.

Am 20. November 1989 verabschiedeten die Vereinten Nationen die „UN-Kinderrechtskonvention“. In ihr sind persönliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aller Kinder dieser Welt formuliert. Sämtliche Staaten der Welt haben das Dokument unterzeichnet, mit Ausnahme der USA und Somalia.

Auch die Bundesrepublik hat Vorbehalte angemeldet, weil sie fürchtet, „dass die bundesrepublikanische Praxis, auch Minderjährige in Abschiebehaft zu nehmen, mit der Konvention nicht in Einklang zu bringen ist.“

Die von der Bundesrepublik praktizierte Ausländer bzw. Abschiebepolitik hat besonders für die betroffenen Kinder furchtbare Folgen. Kinder, die zum großen Teil das Land, in das sie abgeschoben werden sollen, nicht kennen, weder seine Kultur, seine Sprache, noch seine Menschen, leben in ständiger Angst. Kinder, die Krieg und Verfolgung in ihrem Herkunftsland erleiden mussten, oft auch traumatisiert sind, haben mit ihren Eltern ihre ganze Hoffnung auf ein Leben in der Bundesrepublik gerichtet – doch ihre Erwartungen werden bitter enttäuscht.

Eine junge Afghanin, die als Kind vor über zehn Jahren mit ihrer Familie aus dem Krieg nach Deutschland floh, schreibt:

„Die Erlebnisse des Krieges haben mich nicht so traumatisiert wie die Behandlung durch die Behörden in Deutschland. Bis heute beherrscht mich Angst, Angst um mich, Angst um meine Familie … Seit zehn Jahren wissen wir nicht, ob wir als Flüchtlinge anerkannt werden … Wir leben in ständiger Angst vor der Abschiebung. Ich frage mich ob dieses Land wirklich eine Demokratie ist. Ich bin zutiefst enttäuscht. Ich bin ein Mensch zweiter Klasse“.

Und wie diese Abschiebung in der Praxis aussieht, dazu aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 5. Dezember 2007: Die Familie Ibrahimi, die schon sechs Jahre in Bayern lebte, wurde in den Kosovo abgeschoben.

„Es blieb kurz Zeit, ein paar Sachen zusammenzuraffen, und ab ging’s zum Flughafen. Dabei spielte auch keine Rolle, dass die Kinder kurz vor ihrer Flucht nach Deutschland Gräuel miterlebt hatten und dass die Frau Ibrahimi in psychologischer Behandlung war.“

Die Asylbewerber leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in Sammellager oder Heimen. Eine Frau aus Togo z.B. lebt seit 12 Jahren in einer solchen Unterkunft – vor neun Jahren hat sie Zwillinge bekommen. Wenn diese Kinder, ich zitiere wieder die SZ, „zwischen den Haufen aus Laken und Schuhen auf dem Korridor in der Baracke herumtollen, dann schauen auch sie auf einen Zaun, einen Zaun mit dem Stacheldraht“.

Zusammengepfercht in den Zimmern, schlechte hygienische Bedingungen, vielleicht mal 40 Euro Taschengeld im Monat und Zwangsverpflegung – welche Zukunft haben die Menschen, die Kinder?

Es gibt keinen Schutz der Familie, wenn Elternteile oder Kinder abgeschoben werden, Kinder und Jugendliche sind oft monatelang in Abschiebehaft. Unbegleitete minderjährige jugendliche Flüchtlinge werden mit 16 Jahren „verfahrensmündig“, unterliegen dem Ausbildungs- und Arbeitsverbot und können ohne Begleitung abgeschoben werden.

Diese menschenunwürdigen Lebensbedingungen werden meist bewusst so gehalten, die Schikanen werden extrem gesteigert, damit sie freiwillig in ihre „Heimatländer“ zurückkehren. Und, während die Asylsuchenden und bei uns lebenden Flüchtlinge wie Menschen 2. Klasse behandelt werden, schottet sich die „Festung Europa“ hermetisch ab.

Die Grenzen zu Lande sind dicht und an den Ufern der Meere sterben täglich Flüchtlinge. Ihr Tod ist den Medien heute meist nur eine kurze Meldung wert. Viele 1.000 Flüchtlinge, die in Europa ein freies Leben ohne Krieg, Verfolgung und Marter gesucht haben, sind in den Fluten der Meere umgekommen. Wer kennt ihre Namen? Wird je in einer Gedenkveranstaltung ihrer gedacht werden?

Vielfach wird öffentlich betont, dass man aus dem Geschehen der Nazizeit gelernt hat und es wird das „Nie wieder“ beschworen. Wer angesichts dieser von mir nur skizzierten Tatsachen von „Nie wieder“ spricht, kann sich nicht in die Lage gedemütigter, verzweifelter und abgeschobener Menschen versetzen. Er weiß nicht, was es heißt, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt werden und sie allein ihrem Schicksal überlassen sind – oder er oder sie sprechen bewusst die Unwahrheit.

Einen kurzen Blick zurück in die Geschichte:

Im Juli 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, haben sich auf Initiative der USA Vertreter von 32 Staaten in dem französischen Ort Evian les Bains zu einer Konferenz getroffen, um über Hilfe für die Menschen, die vor den Nazis geflohen sind oder fliehen wollten, zu beraten. Keiner dieser 32 Staaten erklärte sich bereit, die bedrohten Juden aufzunehmen. Niemand wollte es sich mit Hitler verderben. 100.000 jüdische Menschen – darunter viele Kinder – hätten überlebt, wenn sie mit Hilfe dieser 32 Staaten rechtzeitig hätten fliehen können.

Erst nach der Reichspogromnacht am 9.November 1938 erklärte sich Großbritannien bereit 10.000 jüdische Kinder zwischen 14 und 17 Jahren aufzunehmen. Diesem Beispiel folgend haben noch kleinere Aktionen stattgefunden, so dass etwa 12.000 jüdische Kinder vor dem Gastod der Nazis gerettet wurden.

Was können wir tun?

Es geht heute vor allem um das Wohl und den Schutz der Flüchtlingskinder. Ich meine, dass wir vor allem die öffentliche Meinung für die unwürdigen Lebensverhältnisse, in denen die Flüchtlingskinder leben müssen, sensibilisieren müssen. Die Kirchen müssen Kraft ihrer Autorität und ihres Glaubens auf die Bundesregierung einwirken, dass sie ihren Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurücknimmt. Auch die Kirchen müssen sich zum Anwalt der Flüchtlingskinder machen.

Die Ausstellung mit den Bildern des Künstlers Mark Strickland und den Kindergedichten der ermordeten und überlebenden Kinder von Theresienstadt ist nach gut zweimonatiger Dauer zu Ende. Ich hoffe, dass diese eindrucksvolle Ausstellung vielen Besuchern Anstoß zum Nachdenken und Handeln gibt. Ich danke Herrn Pfarrer Mensing und seinen Mitarbeiter-Innen, dass sie gerade hier an diesem Ort diese Erfahrungen möglich machen.


www.jued-pal-dialoggruppe-muenchen.de/pageID_6147026.html.

Überraschung

Jahr: 2008
Bereich: Flüchtlinge

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