Materialien 2008

Lustige Demonstrationsgeschichten

Seinerzeit kamen Kurdinnen und Kurden nach München. Sie waren auf der Flucht. In ihren Län-
dern herrschte das Kriegsrecht. Einer von ihnen, ein junger Maler, nannte sich „Kurday“. Er war in seiner Heimat im Nordosten der Türkei Lehrer, hatte selbstbewusst gegen den tief verwurzelten Nationalismus, der dort herrschte, argumentiert und war von einem fanatischen Supertürken mit einem Gewehr über den Haufen geschossen worden. Kurday überlebte diesen Mordversuch. Als man ihn aber danach zum Militär einziehen wollte, da floh er und kam schließlich wie viele andere auch nach München.

Er war zierlich und ging mir gerade bis zu Schulter. Die Gänge zur Ausländerbehörde waren de-
mütigend. Kurday musste sich wie viele seiner Landsleute Woche für Woche die Aufenthaltsge-
nehmigung verlängern lassen. Seinen Pass rückte die türkische Botschaft nicht mehr heraus. Aber es gab deutsche Freundinnen und Freunde, die bei diesen Behördengängen mitkamen und dafür sorgten, dass die Prozeduren wenigstens einigermaßen zivil abliefen.

Es war um 1985, als es zu einer spontanen Demonstration an der Leopoldstraße kam. An den konkreten Anlass erinnere ich mich nicht mehr. Aber es ging um die Türkei und ihr gestörtes Ver-
hältnis zu ihren eigenen Minderheiten. Etwa hundert Demonstranten standen auf der Höhe des „Schweinchenbaus“, einem rosa gestrichenen Gebäude der Universität, skandierten Parolen und behinderten auch den Verkehr. Etwa hundert Polizisten drängten die protestierenden Menschen schließlich auf den Gehsteig zurück.

Ich stand da, neben mir Kurday. Uns gegenüber die Phalanx der martialisch mit Helmen und gepolsterten Uniformen ausgerüsteten Staatsdiener. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt. In dieser Situation war es immer Kurday, der einen Beitrag dazu lieferte, dass es zum Knall kam. Er hatte sich bei mir eingehängt, hüpfte wie ein Gummiball auf und ab und schrie fortwährend „Haut die Bullen platt wie Stullen!“

Ich versuchte ihn etwas zu beruhigen, aber je mehr ich ihn besänftigte, desto aufgeregter wurde er. Vermutlich waren die kulturellen Ausgangslagen unserer ethnischen Herkunft recht unterschied-
lich. Kurday schrie und hüpfte. Die Gesichter der Polizisten waren nicht zu erkennen, da sich die schon schräg stehende Sonne in ihren Helmvisieren spiegelte. Kurday hüpfte und schrie. Da holte der vor uns in einer Entfernung von einem Meter stehende Polizist aus und schlug Kurday mit ganzer Wucht auf den Kopf, dass dieser umfiel und mich beinahe mitriss.

Da lag er nun. Ich zog meine Jacke aus, knüllte sie zusammen und schob sie unter seinen Kopf, hielt seine Hand und versuchte ihn wieder zu beleben. Um uns herum war ein lauter Spektakel. Naja, Kurday öffnete die Augen, sah mich an, richtete sich vorsichtig auf und schüttelte und sammelte sich.

Wir haben dann beide den Schauplatz des Geschehens verlassen und sind ins „Stop In“ in der Türkenstraße gegangen, um uns ein Bier einzupfeifen.

Jahre später kam es zur Demonstration, deren „Münchner Kessel“ in die Geschichte einging. Dieses denkwürdige Ereignis ist für meine Freunde, Vroni und Willy, ein ganz besonderes. Sie haben sich nämlich da kennen gelernt. Es war am Rindermarkt, als ein ziemlich aggressiv auf-
tretender Trupp polizeilicher Spezialeinheiten Demonstranten jagte. Vroni stand da und beob-
achtete, wie mehrere Menschen, darunter auch Frauen, eingekreist wurden und dann rüde mit Schlagwerkzeugen bearbeitet wurden.

Als eine Frau zusammenbrach und der Polizist, der auf sie einschlug, nicht mehr aufhörte, da brannte bei Vroni eine Sicherung durch. Sie schrie wie am Spieß und rannte in die Richtung des Geschehens.

Willy, der in der Nähe stand, beobachtete auch, was da geschah. Er beteiligte sich nicht mehr an körperlichen Auseinandersetzungen. Er war der Meinung, dass die Polizei sich in den meisten Fällen durchsetzt. Er sagte immer, das müssen wir anders machen. Jedenfalls stand Willy da und spürte die Taubheit in seinem kleinen Finger wieder, der ihm einmal bei einer Rangelei gebrochen worden war. (Wenn er Gitarre spielte, dann tat ihm der kleine Finger auch weh.)

Willy stand da, und Vroni wollte laut schreiend an ihm vorbeilaufen. Da packte er sie, hielt sie in der Taille fest und brüllte sie an, sie solle ruhig sein. Vroni überschüttete Willy wie eine Furie mit einer Flut von Schimpfworten. Sie war außer sich, und ich sah, wie beide da standen; er hatte sie immer noch mit seiner ganzen Kraft gepackt. Schließlich beruhigte sich Vroni, und Willy schleppte sie in das nächste geöffnete Café.

Geheiratet haben sie nicht, aber sie sind heute noch beisammen.

Wieder einige Jahre später ging ich mit Heinz bei einer Demo mit, die die Gewerkschaften organi-
siert hatten. Vor uns ging ein Trupp der „Marxistisch-Leninistischen-Partei-Deutschlands“, der laut die Parole „Wir wollen Arbeit“ skandierte. Heinz und ich waren da anderer Meinung. Wir beide riefen immer dann, wenn die Genossen pausierten: „Wir wollen keine Arbeit!“ Das ging nun eine Zeit lang so hin und her, bis einer der MLPD-Männer stehen blieb, sich umdrehte, uns stra-
fend ansah und mich streng fragte: „Sag mal, wie ist denn Dein Verhältnis zur Arbeiterklasse?“ Da war ich erst einmal verblüfft und in meiner momentanen Überforderung blieb mir nichts anderes übrig, als zu sagen „Ausgezeichnet, Genosse, ausgezeichnet!“

Zum Schluss fällt mir noch ein, dass ich bei der Demonstration gegen die so genannte „Sicherheits-
konferenz“ im letzten Jahr nicht mehr gehen konnte, weil ich so lange schon bei der Kundgebung gestanden bin. Irgendwie brauchte ich einen Sitzplatz. In der Demonstration fuhr der Cochise mit seinem kleinen Laster, auf dem die Lautsprecheranlage montiert war. Da hab’ ich ihn gefragt, ob er mich mitfahren lässt, und er hat’s getan.

Es wurde dunkel. Schneetreiben setzte ein. Dick eingepackte Polizisten stapften neben uns durch den Matsch. Der „schwarze Block“ vor uns hüllte sich zitternd in seine Seitentransparente. Der Weg war lang. Da klopfte eine vermummte Gestalt an mein Fenster. Ich kurbelte es hinunter und wurde gefragt, ob ich nicht eine der leeren Plastikwasserflaschen hinausreichen könne. Nichts ahnend tat ich dies und schloss das Fenster wieder. Es dauerte nicht lange, vielleicht zwei Quer-
straßen, da klopfte es wieder. Ich öffnete und bekam die Flasche zurück gereicht, gefüllt mit gelb-
licher Flüssigkeit. Ich verstaute sie zu meinen Füssen, und ehe ich’s mich versah, wollte der näch-
ste eine leere Flasche. Das Spiel wiederholte sich.

Die Abschlusskundgebung fand auf dem Odeonsplatz statt. Vor meinen Füßen lehnten in der Schräge des Fußraums vierzehn mit Urin mehr oder weniger gefüllte Flaschen. „Kann ich Dich denn so alleine lassen“, fragte ich. Cochise meinte, „Des passt scho’, hau ab!“ Und ich ging vor zum „Frauenhofer“ nicht nur auf ein Bier, sondern auch auf die Toilette.

Also, das war eine Demonstration quasi backstage. Demonstrationen backstage sind viel besser als zum Beispiel ins Kino gehen.


Richy Meyer (Januar 2009)