Materialien 2009

Revolution: Turbo-Motor des Lebens

Der Schauspieler Josef Bierbichler über gesellschaftliche Umstürze als Beschleuniger der Evolution und einen Weltkrieg, der nicht stattfand

Von Herbert Achternbusch gibt es den Satz: Wird die Zukunft im Untergang der Fabriken ebenso eine Notwendigkeit erkennen, wie uns die Burgen ein Zeichen notwendiger Wandlung sind?

So ein Satz! Aus einem Guss. Dass, was gemeint ist, und wie es gesagt ist, eins sind.

Mir gelang heute ein Nachmachersatz: Es ist Sonntagvormittag. Ich sitze in einem Cafe am See. Aus der gegenüberliegenden Kirche kommen lauter alte Leute heraus. Die Messe ist aus. Hoffnungsvolle Frage: Wird so das Verschwinden eines Anachronismus bald auch gegenüber einer Kaserne zu beobachten sein – nur noch alte Leute gehen ein und aus?

Beide Sätze formulieren eine Hoffnung auf Veränderung.

Damit solche Hoffnungen überhaupt entstehen und formuliert werden, bedarf es der Ungeduld. Ungeduld ist eine erste revolutionäre Regung. Von einer Tat ist aber nicht die Rede. Gilt der revolutionäre Gestus erst durch die Tat?

In der Türkei hat im Juni dieses Jahres eine Elfjährige ihre Mutter erschossen, weil die sie nicht auf eine höhere Schule gehen lassen wollte. Danach ging das Mädchen zur Polizei. Im Schulranzen die Pistole und die Aufnahmeprüfungsformulare für die höhere Schule. Nach dem Verhör begleiteten die Polizisten und eine Psychologin das noch nicht strafmündige Mädchen zur Aufnahmeprüfung. Es hat die Aufnahmeprüfung bestanden und geht demnächst vermutlich zur höheren Schule.

Das wäre dann das Ergebnis einer revolutionären Tat. Evolution wäre gewesen, wenn das Kind unter den aufgezwungenen Bedingungen weiter gelebt, selber Kinder geboren, und die dann auf eine höhere Schule geschickt hätte. Durch seine Tat beschleunigte das Kind die Evolution. Evolution und Revolution sind hier einen Pakt eingegangen, wenn man unterstellt, dass beides Reflexe der Natur sind. Denn es ist schwer, sich vorzustellen, dass ein elfjähriges Kind im vollen Bewusstsein handeln kann. Auch weiß niemand, ob es später mit den Schuldgefühlen zurecht kommen wird. Aber unstrittig ist, dass für das Mädchen eine Entwicklungsbeschleunigung stattgefunden hat.

Wenn die Datenübermittlung in den letzten 20 Jahren eine atemberaubende Geschwindigkeit erreicht hat, genauso wie die Entwicklung der Fortbewegungsmittel im Lauf des letzten Jahrhunderts, gilt das als technische Revolution und Fortschritt. Dieses Prädikat wird sozialen Revolutionen von demokratisch verfassten Gesellschaften und ihren sie begrifflich formenden Medien im Kapitalismus nach wie vor verweigert. Soziale Revolutionen werden als von Staatsfeinden ersonnene und von Diktatoren erzwungene Ordnungen interpretiert, nicht aber als verzweifelte und notwendige Handlungen von Menschen in einer unerträglichen Lage. So verweigert die demokratische Gesellschaft unter der kapitalistischen Herrschaft eine natürliche Entwicklung. Deshalb gilt Revolution oft als Rückschritt.

Das an der Profitrate entlang expandierende Kapital kann sich von der sozialen Frage unmöglich aufhalten lassen. Eine Rücksichtnahme auf menschliche Bedürfnisse würde eine Minderung des Profits bedeuten. Das Kapital könnte nicht mehr bis zum Äußersten wachsen und wäre nicht mehr konkurrenzfähig. Es würde seine Option auf eine Monopolstellung riskieren. Von den Profiteuren, die hinter dem namenlosen, lediglich durch Firmenlogos gekennzeichneten Kapital stehen, würde das als Niederlage interpretiert. Eine soziale Revolution anzuerkennen, höbe ihre Existenz als Kapitalisten auf. Deshalb erfüllten die Sozialdemokratischen Ebert und Noske nur einen kapitalistischen Auftrag, als sie die Revolutionäre von 1918/19 einfach „auf der Flucht“ abschießen ließen.

Wenn eine revolutionäre Entwicklung aber Profit verspricht, dann ist das revolutionäre Potential auch dem Kapital immanent – nicht weniger als dem ausgelaugten Lohnarbeiter der Bedarf nach einer sozialen Revolution innewohnt, die ihn und seine Arbeitskraft von der Gleichsetzung mit der Ware, die er herstellt, befreien würde. Die sowjetische Revolution in Russland, die das Zarenreich den Titel gekostet und gleichzeitig eine bürgerliche Revolution übersprungen hat, hat mit 70 Jahren geschichtlich gesehen nicht lange gedauert. Sie ging zugrunde am längeren Atem der westlichen Gegenrevolution und an den eigenen Schuldgefühlen. Für einen Großteil von zwei Generationen russischer Menschen bedeutete sie aber: ein Leben in vergleichsweise erträglichen Bedingungen gelebt zu haben. Trotzdem wird erst die Zukunft weisen, ob diese Entwicklungsbeschleunigung in Russland zwischen 1918 und 1989 von ihr nicht als wichtiger Fortschritt, möglicherweise sogar als ein Modellversuch für eine zukünftige Weltgesellschaftsordnung gewertet werden wird.

Was, wenn die Revolution 1918 in Deutschland geglückt wäre? Ein deutscher Faschismus hätte sich zuerst einmal nicht entwickeln können. Niemand kann aber sagen, welche Mittel eine Räterepublik hätte anwenden müssen, um gegen die Konterrevolution bestehen und überleben zu können. England und Frankreich hätten einer solchen Entwicklung nicht tatenlos zugesehen. Amerika erst recht nicht. Möglicherweise wäre aus dieser Situation ebenfalls ein Zweiter Weltkrieg entstanden, mit ähnlichen Verbündeten, aber anderen Urhebern. Auf Seiten Deutschlands hätte die Sowjetunion gestanden. Der industrialisierte Judenmord hätte nicht stattgefunden.

Hätte die deutsch-sowjetische Allianz gesiegt, wären heute der gesamte europäische und vermutlich auch der asiatische Kontinent sozialistisch. In Nordamerika herrschte eine Diktatur der Angst im Stile des McCarthyismus. Kuba stünde unverändert, aber etwas besser da. Che Guevara wäre wie gehabt über Afrika nach Südamerika gereist, um von einem willigen Soldaten der bolivianischen Marionettenregierung im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes genickschussgetötet zu werden. Lumumba wäre ebenfalls wie gehabt in einem salzsäuregefüllten CIA-Fass aufgelöst worden. Der spanische Bürgerkrieg hätte zwar stattgefunden, wäre aber zugunsten der demokratisch gewählten Republik ausgegangen, weil Franco kein verbündetes Deutschland gehabt hätte. In Chile und anderen südamerikanischen Staaten wäre alles so gelaufen, wie es lief, weil Amerikas Wirtschaftselite auch in diesem Fall Militärdiktaturen zur Macht verholfen, und diese morden und foltern hätte lassen, um der eigenen Panik vor einem Ende des American War of life etwas entgegenzusetzen. Vietnam wäre so oder so in die Steinzeit zurück gebombt worden, Kambodscha auch. Die Roten Khmer wären bis in die 1990er-Jahre von der CIA mit Streuwaffen und Tretminen versorgt worden, und Guantanamo wäre noch brutaler ausgefallen, weil der amerikanische Faschismus auf keine Verbündeten mehr hätte Rücksicht nehmen müssen.

In Deutschland gäbe es Politiker und Zeitungen, die selbstverständlich Worte wie Ausbeutung, Klassengesellschaft, Expropriation, Exploitation oder Solidarität gebrauchen würden, statt sie einfach zu tilgen. Die Spaßgesellschaft wäre vielleicht an der eigenen Freude erstickt. Wenn aber doch die westliche Allianz gesiegt hätte, damals, im angenommenen großen Krieg Kapitalismus gegen Kommunismus, angezettelt von den kapitalistischen Staaten, um das Pflänzchen Räterepublik wieder aus dem demokratischen Garten zu nehmen, dann wäre alles wie heute. Nur Israel gäbe es vielleicht immer noch nicht, weil es auch in diesem Fall keine Nazis gegeben hätte. Oder vielleicht doch?

Schwer zu sagen. Aber sie hätten vielleicht nicht Nazis geheißen und wären vielleicht erst zwanzig Jahre später gebraucht worden, vielleicht auch in einem anderen Land. Aber auf jeden Fall im Dienst eines expandierenden Kapitals.

Angesichts der Geschichte und des mit ihr verbundenen Leids darf keine Spitzfindigkeit ausgelassen werden, um nicht auch nur den geringsten Zweifel an der Rechtmäßigkeit jeglicher Revolution zu nähren. Wer aber von der Diktatur des Profitprinzips nicht reden will, der soll auch von Recht und Gerechtigkeit schweigen. Der britische Gewerkschafter Thomas Joseph Dunning formulierte vor 150 Jahren in seiner Schrift Trade Unions and Strikes , überliefert in einer Fußnote des Kapitals von Karl Marx: „Das Kapital hat einen Horror vor der Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. 10 % sicher, und man kann es überall anwenden; 20 %: es wird lebhaft; 50 %: positiv waghalsig; für 100 % stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“

Die sanften, das Menschsein liebenden, zur Liquidation ihrer Gegner unfähigen Münchner Räte von 1918/19 hatten keine Chance.

Josef Bierbichler ist zu sehen in Konzert zur Revolution ,

Premiere: 24. Oktober 09.


Münchner Kammerspiele (Hg.), Magazin als Maßnahme. Sicherheitsrisiko, München 2009, 37 ff.

Überraschung

Jahr: 2009
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen