Materialien 2009
Eigentlich könnt's uns ja wurscht sein
Wenn du durch die Straßen gehst, dann denkst du manchmal, wo bist denn jetzt gelandet?! Wie in einem Film kommst du dir vor, erstaunliche Kulissen stehen da rum, und du spürst, da türmt sich nicht nur ein Gebäude, das sagt auch etwas. Bei jedem Hochbunker aus der Nazizeit ist es klar, was er da meint: „An mir beißt Du Dir die Zähne aus, denn ich bin für die Ewigkeit gebaut.“
Auch die Polizeidirektion an der Knorrstraße signalisiert uns ein eindeutiges Anliegen: „Hier, diese ummauerte Festung ist die Befehlszentrale der Prätorianergarden. Wir sind der Staat im Staat, von Euch unabhängig, aber wir sehen alles. Und mit unseren Antennen senden wir in kürzester Zeit alle Signale aus, die wir wollen. Passt bloß auf!“
Ein paar Meter weiter siehst du den Haupteingang, der zu BMW führt. Wie die riesige Düse eines Staubsaugers schließt er die Ecke des Platzes ab. Ja, wie eine Düse, die einen einsaugt hinein in die prächtige Lobby, weg vom Ich, hin zur Maloche und hin zur Rendite.
Nicht weit davon entfernt, am Mittleren Ring, steht die „BMW-Welt“. Von außen ein raumschiffi-
ger Protzbau, der die seelenlose Technik feiert, der eine sterile Utopie verspricht, in der in Dirndl hinein geklonte Barbiepuppen mit gefrorenem Lächeln den Kunden umgarnen. Außen Fassade, innen Fassade. Wenn du’s aushältst, dann geh’ mal rein. Männer von sechzehn bis sechzig stehen mit glasigen Augen herum und bestaunen mit leicht geöffnetem Mund fasziniert mehrere Benzin-
kutschen, die auf sich drehenden Scheiben stehen.
Mir könnt’s ja wurscht sein, wenn sich die Nachbarn das Gehirn zukleistern oder wegpusten, aber es tut mir weh, wenn sich die Leute zu Marionetten machen lassen. Und mir tut’s weh, wenn einer viel zu spät aufwacht, weil er ahnt, dass da gar nix ist, nicht einmal ein schwarzes Loch, weniger als nix, und davor bringen’s dann eine bodenständige Tracht an, damit’s ein bisserl nach was gleich sieht.
Es tut mir weh, weil ich jeden Tag solchen armen Teufeln begegne und ihnen gern helfen tät irgendwie, aber nicht weiß, was ich tun soll. Denn das, was da mit ihnen passiert, ist tägliche Körperverletzung, aber juristisch nicht relevant. Noch schlimmer, es ist eine tägliche Verletzung ihrer Seele. Falls so eine überhaupt noch da ist!
Und dann, Mercedes an der Donnersberger Brücke, freudig als das größte Schaufenster der Welt apostrophiert, den Himmel stürmend, ihn verdeckend und nur noch eine Aussicht anbietend: Auch du bist Mercedes! Dieser monströse Glassarg voll fahrbarer Blechmöbel lässt in totalitärer Weise nur zwei Reaktionen zu: vollständige Identifizierung oder Brechreiz!
Wenn du den überwindest und du dir diese feiste Deko länger ansiehst, dann kommt dir der Zweifel, ob das Konzept denn schon ausgereift ist. Zwar wird diese Schaufassade im Dezember immer zu einem überdimensionalen Adventskalender umgestaltet, in dem geheimnisvoll an jedem Tag ein „Fensterchen geöffnet“ wird und du eine neue Benzinkarre siehst, aber etwas fehlt in der Hauptstadt des politischen Katholizismus, um den Aufmerksamkeitswert der Inszenierung voll auszuschöpfen: Es sind die prallbusigen Mädels, die nur mit einer Santa-Claus-Mütze bekleidet sich auf den glänzenden Motorhauben räkeln. Oder sind wir noch nicht so weit?
Die Mädels könnten doch Auffahrunfälle auf der Donnersberger provozieren. Das steigert wieder-
um die Nachfrage nach neuen Kisten und schafft Arbeitsplätzchen und spült Gewerbesteuer in den Stadtsäckel.
München will „Weltmetropole“ sein. Aber es war nicht einmal Anno Domini 2009 möglich, dass Busse des öffentlichen Nahverkehrs mit vom „Bund für Geistesfreiheit“ selbstverständlich bezahlten antiklerikalen Aufschriften fahren konnte. In London oder in New York siehst du solcherart beschriftete Busse widerspruchslos fahren; das ist dort nicht weiter erwähnenswert. Nein, meine Heimat kommt mir dumpf, muffig, verstaubt vor. Der Thomas Mann hatte schon Recht: München ist eine eigentlich dumme Stadt.
Wenn ich heute durch die Stadt gehe, erlebe ich immer mehr Apathie und Gefühlskälte und sehe fröstelnd diese kühle Glätte, die – zunächst nicht offen sichtbar – zugleich einem grundsätzlichen Reglement in einem Klima latenter Gewalt unterworfen ist. Die Profis nennen es eye- and earcat-
ching, wobei Forscher herausgefunden haben: Der Griff in die Augen erobert und besetzt achtzig Prozent, der Griff in die Ohren zwanzig Prozent unserer Aufmerksamkeit. Die Ökonomie durch-
setzt mit ihrer Ästhetik optisch und akustisch den öffentlichen Raum. Tausende Male wird jeder von uns täglich angeschrieen: „Kauf mich!“
Die immer wieder sentimental beschworene „schöne Münchner Stadt“ verschwindet. Dafür entsteht eine neue. Die Stadt wird zielstrebig durchdrungen von einem dichten, vielstimmigen Chor derer, die ein Verkaufsanliegen treibt. Das Marktgeschrei dringt noch in den letzten unberührten Winkel und verdrängt unsere Lebensart, unsere Nachdenklichkeit, unsere Stille.
Mehr noch! Dieser vielstimmige Chor enthält alle Facetten des flüsternden Lockens, des Schmei-
chelns, des Brüllens. Idiotisches Gestammel, flehendes Rufen und Predigen. Da wird ein schlechtes Gewissen erzeugt, Sehnsüchte angesprochen. Den Frauen schreibt man lange Beine vor, die Männer erhalten einen gnädigen Vollrausch.
Kinder können sich am wenigsten gegen diesen schauderhaften, aber auch oft wunderlichen Firlefanz wehren. Ihre Seelen sind den Zugriffen schutzlos ausgeliefert. Sie lernen bestens zu funktionieren: Konsumier, dann bist du! Manche von ihnen spüren, was da geschieht. Dann zappeln sie wie ein Fisch auf dem Trockenen, sie schlagen um sich und vertrocknen schließlich
wie ungewässerte Pflanzen in der grellen Mittagssonne.
Nur zwei Möglichkeiten bleiben uns im Zeichendschungel: Entweder lassen wir zu, das Gemeinte zu erkennen, dann ändert sich die Choreographie unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Oder wir schotten uns ab und verhindern das Eindringen der Botschaft, verhindern damit aber auch das Eindringen anderer lebensnotwendiger Botschaften.
Es handelt sich ja um Verletzungen der Seele, des Gefühlslebens, des Ich, des mentalen Gleichge-
wichts, es handelt sich um permanente Körperverletzung, die als solche nicht erkannt werden darf. Darum kommt es zur Identifikation mit dem Prozess. Wie eine Herde blökender Schafe lässt sich die große Mehrheit der Mitmenschen so in den Pferch der eigenen Vernutzung treiben. Der Mensch, nichts anderes als ein „Verbraucher“, unfähig zu sehen, wie er gebraucht, missbraucht und am Ende selbst verbraucht wird?
Der Terror der Ökonomie besetzt die Dunstglocke über dem öffentlichen Raum, er verdrängt damit das selbstverständliche Zusammenleben und damit im weitesten Sinne Politik. Er hebt in einem atemlosen Tempo Geschichte auf, zerstört das Werden und Vergehen, wirft Vergangenheit weg und lässt Zukunft vergessen.
Nein, ich will nicht mit gesenktem Blick durch die Stadt gehen. Eigentlich müsste ich es, um diesen totalitären Zumutungen keine Zutrittsmöglichkeit in mein Inneres zu geben. Aber ich gehe nicht mit gesenktem Blick durch die Stadt. Da hätte ich mich schon unterworfen.
Nein, es ist mir nicht wurscht, was hier geschieht. Weil das Leben für etwas anderes da ist.
Nicht dafür, dass wir zugeregelt werden und immer weniger Luft zum Schnaufen haben. Von den wenigen Freiräumen, die uns noch bleiben, wird uns Scheiberl für Scheiberl ein Stück abgeschnit-
ten. Wo kannst du heute noch ein nichtkommerzielles Plakat ankleben? Gnädig wird dir da ein Platzerl eingeräumt. Wo kannst du dich ungestört mit Gleichgesinnten treffen? Sofort ist eine Uniform in der Nähe, die dich argwöhnisch beobachtet. Und willst du Kultur, musst du bezahlen.
Wir sind ununterbrochen damit beschäftigt, unsere Freiräume zu verteidigen. Weil die da oben glauben, dass der Mensch Gefahr läuft, sein Leben nicht in ordentlichen Bahnen zu begradigen, und deshalb eine Führung braucht.
Ich habe mir mal angesehen, wie viele fantastische und kreative Plakate die Münchner subkulturel-
le Szene im letzten halben Jahrhundert gestaltet hat. Und ich habe gestaunt. Aber welches von diesen Plakaten war je im öffentlichen Raum zu sehen? Und das noch massenhaft? Eine Zeitlang an wackligen Bauzäunen, unter brösligen Brückenpfeilern oder an den Elektrokästen der Stadt-
werke. Trotz der Verbote, Verbote, Verbote.
Schließlich verdrängte bezahlte Werbung die freie Information von den wenigen freien Flächen. Zunächst waren die Elektrokästen mit einer klebstoffabweisenden Farbe beschichtet worden. Nur bewährte sich diese Chemie offenbar nicht. Heute befinden sich auf ihrer Vorderseite Wechselrah-
men — für Kommerzschwachsinn! Und die wenigen anderen Orte überwachen nachbarschaftliche Blockwarte aufmerksam. Kaum hängst du irgendwo ein alternatives Plakat auf, wird es rigoros entfernt.
München, die Hauptstadt der sauberen Bewegung. Vor allem in den Köpfen. Clean, keimfrei und einfach nur noch fad. Auch diese Musik in den U-Bahnhöfen. Armer Vivaldi, das hast du nicht verdient: am Odeonsplatz runtergedudelt, damit der Fixer noch mehr zittert beim Setzen der Nadel.
Genauso grausam nervend sind die Limousinen, die „Picasso“ heißen und angeblich vom Meister selbst signiert wurden. Wenn der gleiche „Picasso“ mit genial hingeworfenen Graffitis eine S-Bahn gestaltet, überraschend, schön, aufregend, kreativ, dann rückt das Sonderkommando aus. Da gel-
ten dann die Regeln. Ein im Handel erhältlicher und vom Bürger gern erworbener FCKW-freier Spray nennt sich „Vandal-Ex“.
Ja, für uns haben sie einen Berg von Regeln. Auf der anderen Seite siehst du, wie sich glitzernde, pompöse BMW-Welten in unseren Lebensraum hineinfressen wie Lavaströme. Da macht sich alles breit, was mit Geld zu tun hat, wie ein Krebsgeschwür. Der Krake wächst; mit einem seiner Fangar-
me hat er schon das ehemalige „Alabama-Gelände“ draußen an der Schleißheimer Streaße im Griff. Das ist toll, das ist fantastisch, da gibt es plötzlich keine Regeln mehr, das führt sich ganz von selbst.
Ein Modewort heute heißt „Gentrifizierung“. Dabei ist das Ganze ein alter Hut. Überschaubar strukturierte und bezahlbare Viertel sind chick geworden. Aber vergessen wir nicht: Die Stadtteil-
aufwertungen sind nicht auf dem Mist der Yuppies gewachsen, nein, die kamen erst und übernah-
men die Quartiere, als diese attraktiv gemacht worden waren. Man muss schon push- und pull-
Faktoren unterscheiden! Eine primär ökonomisch ausgerichtete Stadtpolitik hat sich, begleitet
von Legitimationsmythen, für großflächige Sanierungen und Privatisierungen des Stadtraums entschieden. Private Investoren übernehmen staatlich und kommunal verwalteten Lebensraum und Infrastrukturen.
Die gesteuerte Stadtentwicklung wird ja von verschiedenen Interessen beeinflusst, sie unterwirft sich aber dem Hauptinteresse, der Verwertung des urbanen Raums zu privaten ökonomischen Interessen. Das Ergebnis sind unter anderem Wanderungsbewegungen. Wenn der Anteil der Miete am Gesamteinkommen eines Haushalts immer größer wird, manchmal sogar die Hälfte oder mehr ausmacht, sinkt der Lebensstandart. Am Ende dieser kalten Enteignung bleibt nur der Wegzug in ein billigeres unattraktives Wohnumfeld.
Viertel sanieren ist prinzipiell gut. Vertreibung der angestammten Bewohner als Ergebnis der Stadtteilaufwertung aber ist inakzeptabel. Der Ausweg wäre, den Wohnungsmarkt vom ökono-
mischen Verwertungsdruck zu befreien.
Das Gegenteil geschieht. Ich dachte immer, ein Computer ersetzt hundert Quadratmeter Groß-
raumbüro. Ich dachte immer, der technische Fortschritt befreit uns Schritt für Schritt von der der Organisation geschuldeten Vernutzung des öffentlichen Raums. Weit gefehlt! Überall manifestiert sich Geld in unübersehbaren Bürokomplexen, die über Jahre leer stehen, während wir in erster Linie für unsere Mieten arbeiten.
Da stellt sich doch die Frage, wie können diese menschenleeren verglasten Türme profitabel sein? Sie sind profitabel bis zum Platzen der nächsten Immobilienblase, denn Staat und Stadt federn Verluste ab und schieben den crash für eine lange Weile auf. Die Folgekosten aber bezahlen wir – das war schon immer so!
Die Unersättlichkeit der Ökonomie verleibt sich immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein. Aber was ist mit uns, die wir nicht einverstanden sind mit der Durchökonomisierung unserer Welt?
Dass es da einige nicht mehr aushalten, ist doch logisch. Die unübersehbare Zerstörungswut, hilfloser Ausdruck des Protestes, hat ihre Ursachen. Viele fühlen sich in einer Stadt, deren öffentlicher Raum von Kommerz, Konkurrenz und Profit immer mehr dominiert wird, nicht
mehr zu Hause. Solange der Terror der Ökonomie die Seelen vor allem der Jungen, die einen anderen Sinn im Leben suchen, denen aber nur stromlinienförmige Karriere und dumpfer Konsum angeboten wird, täglich verletzt, solange werden diese sich wehren. Da hilft auch keine Verschär-
fung der Waffengesetze!
Graffiti zerstören die Corporate Identity der dominanten Selbstdarstellung dieser „heilen Welt“. Mit ihren „Tags“ beweisen sich die Kids täglich, dass sie noch leben. Da könnt Ihr, die Ihr einver-
standen seid mit der Welt, wie sie ist, Vorschriften über Vorschriften anhäufen, da könnt ihr noch so feine Netze der Kontrolle spannen, Videokameras installieren, Wachmänner ausschwärmen lassen … solange Ihr nicht versteht, dass Ihr selbst die Ursachen für die Konflikte schafft, die Ihr dann wieder aus der Welt schaffen müsst, solange werdet Ihr keine Ruhe haben.
Genauso wenig wie die Luft zum Atmen verkäuflich ist, genauso wenig kann öffentlicher Raum — Lebensraum — käuflich sein. Lebensraum ist für alle da und gehört allen. Es geht darum, das zurückzuholen, was uns eigentlich schon längst gehört, was uns schon immer gehört hat, aber uns gestohlen wurde. Wir holen uns zurück, was uns gehört, bevor unser Denken und Fühlen nur noch in Warenkategorien kreist, bevor wir unheilbar krank werden, uns zu Autisten zurückentwickeln, bevor wir die Aggression gegen uns selber richten, uns in die Agonie saufen, uns vor der Glotze blöd flimmern lassen oder am End den vielen anderen in den unvermeidlichen Selbstmord folgen.
Wir haben keine Lust mehr auf Abwehrkämpfe, wir holen uns zurück, was uns gehört! Nicht
um das Recht des Stärkeren zu unserem Recht zu machen, nein, um das Recht des Stärkeren abzuschaffen!
Franz Gans
Gaudiblatt 3/2009