Flusslandschaft 1961
Alternative Medien
Als Dieter Kunzelmann in einem Schwabinger Cafe am 28. Oktober das Heft 6 der Spur im Exil Zeitung mit dem Text „Der Kardinal, der Film und die Orgie“ verkauft, wird er von einer jungen Frau angezeigt. Am 9. November werden sechs Ausgaben der Zeitschrift Spur durch das Sittende-
zernat der Kriminalpolizei München beschlagnahmt. Noch am gleichen Tag erscheint ein Flugblatt gegen diese Maßnahme.1
Privatsammlung
Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Helmut Sturm, Heimrad Prem und H.P. Zimmer werden wegen Gotteslästerung, Verbreitung unzüchtiger Schriften u.a. verurteilt. Am 28. Dezember ist der Text „Der Kardinal, der Film und die Orgie“ der Anlass für eine Verurteilung in erster Instanz zu fünf Monaten Haft ohne Bewährung wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften, Religionsbeschimp-
fung und Gotteslästerung (diese wird später in Bewährung und dann Geldstrafe umgewandelt, wo-
gegen eine Verfassungsbeschwerde eingereicht wird).2 Rechtsanwalt Otto Gritschneder4 kommen-
tiert bissig die Ereignisse.3 Der Text von Uwe Lausen, die Collage von Prem und die Montage von Kunzelmann veranlassen das Kultusministerium unter Theodor Maunz5, die Räume für den „Herbstsalon“ 1962 im Münchner Haus der Kunst nur unter der Bedingung zur Verfügung zu stellen, dass Mitglieder der Gruppe SPUR nicht teilnehmen. Siehe auch „Alternative Medien“ 1962.
1 Siehe www.ur.dadaweb.de/dada-p/P0000706.shtml.
2 Siehe „Rechtsstreit um ‚Spur im Exil’“ von Dieter Kunzelmann.
3 Siehe „RA Otto Gritschneder gestorben“ von Heribert Prantl.
4 Siehe „‚singend stand ich vor dem lokus …’“ von Otto Gritschneder.
5 Theodor Maunz (1. September 1901 in Dachau – 10. September 1993 in München), Verwaltungsrechtler, 1933 Mitglied der NSDAP und der SA, ab 1935 Professor in Freiburg im Breisgau. In einem Artikel unter der Überschrift „Gestalt und Recht der Polizei“ schreibt er u.a.: „Es ist die Gründung des polizeilichen Wirkens auf den Willen der im Rahmen der völkischen Ordnung handelnden Reichsführung … Was mit anderen Worten der Führer … in Form von Rechtsgeboten der Polizei an Aufträgen zuweist, bildet die Rechtsgrundlage der Polizei. Die Zuweisung kann im förmlichen Gesetzgebungsverfahren er-
folgen. Sie kann ferner erfolgen im sonstigen Normenschöpfungsverfahren. Sie kann aber auch ergehen im Wege der Ein-
zelweisung oder auch der Einzelbilligung. Dieses System hat … den alten Gesetzmäßigkeitsgrundsatz ersetzt, seitdem an die Stelle des alten Gesetzes der Wille des Führers getreten ist.“ Roman Herzog, ein Schüler von Maunz, stellt 1993 fest: „Maunz war nach 1948/49 mit Sicherheit einer der beherrschenden Verfassungsrechtler der Bundesrepublik Deutschland, man kann auch sagen, er hat das demokratische Verfassungsrecht der Bundesrepublik mitgeprägt.“ Ab 1957 ist das CSU-Mitglied Maunz bayerischer Kultusminister, bis er, nach dem Bekanntwerden einiger aus der Zeit vor 1945 stammenden Texte unter Druck geraten, am 10. Juli 1964 seinen Rücktritt erklärt und mit dröhnenden Ovationen seitens der CSU-Fraktion verabschiedet wird. Nach seinem Tod erscheint in der National-Zeitung ein Artikel, in dem Maunz dafür gedankt wurde, dass er nicht nur deren Herausgeber, den DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey, seit einem Verfahren gegen ihn nach Artikel 18 des Grundgesetzes (Aberkennung von Grundrechten) in den 1960er Jahren juristisch beraten habe, sondern auch viele Jahre anonym Beiträge für die National-Zeitung verfasst hat.