Flusslandschaft 2009

Zensur

Streitbare Demokratie oder Nachdenken über Krieg und Frieden – Die 1899 auf einer mehr als zwanzig Meter hohen Säule positionierte, vergoldete Siegesgöttin (Nike) grüßt vom östlichen Isarhochufer her in die Prinzregentenstraße. Sie sollte an den Sieg über Frankreich 1871 und den anschließenden mehr als fünfundzwanzig Jahre andauernden Frieden erinnern. Den Sockel der Säule bildet ein kleiner Korentempel mit Porträts der Kaiser Wilhelm I., Friedrich III., Wilhelm II., des Reichskanzlers Otto von Bismarck und der Generäle Helmuth von Moltke, Albrecht von Roon, Ludwig von der Tann, Jakob von Hartmann und Siegmund von Prankh. Anfang des Jahres bean-
tragt Wolfram Kastner im Zusammenhang mit den Protesten gegen die so genannte „Sicherheits-
konferenz“, den angeblichen Friedensengel, der ja tatsächlich auf einer Siegessäule steht, mit an die Bundeswehr erinnernden Tarnnetzen verhüllen zu dürfen. Ein langes Transparent, das unter dem Friedensengel angebracht werden soll, verkündet „bin schon mal weg“. Diese ästhetische Intervention soll vom 5. bis 12. Februar ein sichtbares Zeichen der Abwesenheit des „Friedensen-
gels“ während der Konferenz von Politikern, Außen- und Kriegsministern, Lobbyisten und Rüs-
tungsexperten sein. Kastner: „Dies kann sowohl als schamhafte Verhüllung eines Friedenssymbols wie auch als Tarnung im Kontext militärischer Optionen verstanden werden. Jedenfalls soll das Verhüllen eines Siegeszeichens, das zum Friedenssymbol umgedeutet wurde, die Wahrnehmung und die Diskussion über die aktuelle Situation in der Stadtbevölkerung anregen.“ Die Behörden verweigern die Genehmigung der Aktion mit der Begründung, eine Verhüllung des Friedensengels könne bei starkem Wind zu Beschädigungen des Denkmals führen. Kastner weist daraufhin nach, dass während des Zweiten Weltkrieges der Friedensengel über Monate von schweren, unförmigen Tarnnetzen verhüllt war. Er widerlegt die Argumentation der Behörde und beschreibt gleichzeitig den Mechanismus des grundsätzlich hinhaltenden Widerstands, den politische Ebenen und die Hierarchien der Verwaltung leisten, wenn es Menschen wagen, auf ihrem Grundrecht zu beharren, laut und vernehmlich ihre Meinung zu sagen, zu protestieren und darauf zu bestehen, dass dieser Protest auch gehört und gesehen wird.1 Linke-Stadträtin Brigitte Wolf beantragt im Februar, die Aktion, die jetzt im kommenden Jahr stattfinden soll, im Plenum des Stadtrates öffentlich disku-
tieren zu lassen. Im Mai berät der Ältestenrat, die drei (Ober-)Bürgermeister und die Fraktions-
spitzen, im Raum 209 im zweiten Stock des Rathauses über Kastners Ansinnen und kommt zu dem Schluss, dass ihm die geplante Aktion eigentlich nicht so recht gefällt. Erst zwei Monate später er-
fahren Brigitte Wolf und Wolfram Kastner von der im stillen Kämmerlein beschlossenen Ableh-
nung; das für Kunst im öffentlichen Raum zuständige Baureferat übermittelt die negative Bot-
schaft. Kastner spricht von „Geheimdemokratie“, Wolf findet die Verweigerung einer öffentlichen Debatte als „bezeichnend für den Umgang mit einer kritischen Öffentlichkeit“. Mit Ausnahme einiger Grünen und der Linken mauern die Münchner Stadtratspolitiker fraktionsübergreifend: Das Verbot darf nicht diskutiert werden. „Es bleibt also Wolfram Kastner, dem Plagegeist der Münchner Konventionen, überlassen, so lange keine Ruhe zu geben, bis sie zumindest reden mit ihm. Ein Trost könnte ihm sein, dass Nike und die Räte jetzt schon Einblicke freigeben in eine spezielle Münchner Schweigekultur, und das ganz unverhüllt.“2


1 Siehe „Verdopplung der Windangriffsfläche“.

2 Bernd Kastner: „Das Schweigen der Ältesten“ In: Süddeutsche Zeitung vom 27. Juli 2009.

Überraschung

Jahr: 2009
Bereich: Zensur

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