Materialien 2009
Leserbrief
Zum Artikel „Das Gute an der Krise“ von Wolfgang Ischinger, Süddeutsche Zeitung vom 15. Dezember 2008:
Mit Entsetzen habe ich in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Dezember 2008 den Artikel „Das Gute an der Krise“ von Wolfgang Ischinger1 gelesen. Dieser Text des Vorsitzenden der Internationalen Sicherheitskonferenz in München ist menschenverachtend, geschmacklos, zynisch und bedeutet eine unerträgliche Verhöhnung der Millionen Verfolgten und Ermordeten des Nationalsozialismus. Wörtlich hat Herr Ischinger über „Das Gute an der Krise“ in der SZ geschrieben: „… Auch in der Politik sind viele Errungenschaften ohne vorangegangene Krise kaum denkbar: Die Europäische Union von heute wäre ohne die große Krise Europas, die zwei Weltkriege hervorgerufen hatte, nie zustande gekommen …“
Als Überlebender der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager des Nationalsozialismus empfinde ich eine solche historische Verdrehung der Tatsachen als unerträglich und halte sie für historisch inakzeptabel sowie für politisch gefährlich:
Es ist erschreckend, wenn ein deutscher Spitzendiplomat und jetzige Leiter einer Militärkonferenz behauptet, der 2. Weltkrieg sei durch „die große Krise Europas“ hervorgerufen worden. Das bedeutet unter anderem eine geschichtsrevisionistische Verschleierung der Verantwortung Deutschlands: Der 2. Weltkrieg wurde nicht „hervorgerufen“. Das nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Wehrmacht haben nach einer staatlich geplanten Phase gezielter Hochrüstung zum Profit der deutschen Industrie einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg geführt. Ohne diesen Krieg und ohne die Wehrmacht wäre auch die Shoa nicht möglich gewesen.
Herr Ischinger behauptet weiter; die EU wäre ohne zwei Weltkriege „nie zustande gekommen“. Wenn man Herrn Ischinger beim Wort und damit Ernst nimmt, besagt seine Argumentation damit, dass Millionen Menschen in den Folterkellern der SS, der Gestapo und in den Konzentrationslagern ebenso wie Millionen Zivilisten und Soldaten sterben mussten, um laut Ischinger zu einer solchen „Errungenschaft“ wie der EU zu kommen. Die Aussage von Herrn Ischinger impliziert, dass es keine Alternative zum Krieg und zur industriellen Vernichtung von Millionen Menschen gegeben hätte. Das bisher größte Menschheitsverbrechen erscheint also plötzlich als alternativloser Automatismus der Herrschaftsgeschichte: Das verhöhnt noch nachträglich all jene, die bereits frühzeitig vor den Gefahren des deutschen Faschismus gewarnt hatten, und entschuldigt dafür all jene, die das NS-Regime stark gemacht, von ihm profitiert und es bis zum Schluss getragen haben. In Zeiten, in denen rassistische, antisemitische, militaristische und offen nationalsozialistische Positionen und Bewegungen in Deutschland wieder an Einfluss gewinnen, ist ein Geschichtsbild, wie von Herrn Ischinger vertreten, sicher nicht dafür geeignet, jungen Menschen ihre aktive Verantwortung für die Gestaltung einer Zukunft ohne Krieg und Rassismus zu vermitteln.
Es dürfte außerdem unstrittig sein, dass der deutsche Militarismus und das Großmachtstreben des Deutschen Kaiserreiches für den 1. Weltkrieg maßgeblich verantwortlich gewesen sind — und nicht eine abstrakt behauptete „große Krise Europas“. Ich fordere deshalb Herrn Ischinger dazu auf; von seinen Ämtern zurückzutreten und sich öffentlich für seine Ausführungen zu entschuldigen.
Martin Löwenberg, München, 17. Dezember 2008
Leserbriefentwurf in: Material Richy Meyer, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
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1 Ischinger ist „Generalbevollmächtigter für Regierungsbeziehungen“ der Allianz-Versicherung. Von 1933 bis 1945 versicherte die Allianz auch die Unterorganisationen der NSDAP und erschloss sich im Zuge der Ausbreitung des Deutschen Reiches neue Geschäftsfelder . Durch Übernahme jüdischer Versicherungshäuser wurde der Kundenstamm erweitert. „Hoffentlich Allianz versichert“ galt für Gebäude und Personal im Konzentrationslager Dachau und dem Vernichtungslager Auschwitz, wodurch die Allianz ganz direkt am Holocaust und an den Deportationen verdiente. Nach 1945 nicht enteignet, war die Allianz 1990 wieder so stark, um ein zweites Mal den Weg deutscher Politik mitzugehen: 1990 wurde der Allianz durch die Bundesregierung das gesamte private Versicherungsgeschäft der DDR übereignet und ihr damit die erneute Expansion in den Ostteil Europas eröffnet. Vgl.: Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933 — 1945, München 2001, 481 ff.