Flusslandschaft 1973
SchülerInnen
„Flugblattverteiler wenn sie keine Flugblätter der Schülerunion verteilen, sind für Münchner Schuldirektoren unliebsame Zeitgenossen. Wohl nicht ganz zu unrecht, da sich der größte Teil der Schulleiter aus gestandenen CSU-Anhängern rekrutiert. Doch das ist ihr Pech! Erst vor kurzem glaubte der stellvertretende Direktor des Bert-Brecht-Gymnasiums, zwei dieser unliebsamen Zeit-
genossen die Hölle heiß machen zu müssen. Die beiden Zeitgenossinnen verteilten Flugblätter, in denen unter anderem die Mitglieder der Münchner Bezirksssmv (SchülerSprecherMitVerantwor-
tung = SSMV, G.G.) sowie 8 weitere Schülersprecher zur Teilnahme an der Demonstration gegen das bayrische Hochschulgesetz (25. Januar, G.G.) aufriefen. Die beiden Mädchen verteilten die Flugblätter auf einem Weg, der zum B.B. führt. Dieser Weg war keineswegs als zum Schulgelände gehörig gekennzeichnet. Der stellvertretende Direktor des B.B. wußte dies wohl und wußte folglich auch, daß er gegen die beiden legal nichts unternehmen kann,da FIugblattverteilen auf öffentlich zugänglichem Gelände nicht verboten ist. Der stellvertretende Direktor hatte das Bedürfnis zu er-
fahren, wer denn vor seiner Schule Flugblätter verteilt und forderte die beiden Mädchen auf, ihm Name und Adresse zu geben. Nachdem sich die beiden Mädchen weigerten, rief er die Polizei, die schließlich di Personalien feststellte. Nun hatte er die Nahmen, keineswegs um eine Anzeige gegen die beiden zu erstatten, sondern um die beiden ‚Aufwiegler‘ in die schwarzen Listen des Schulrefe-
rats aufzunehmen. So wird versucht von der Ministerialbürokratie und ihren Ausführungsorganen in den Schulleitungen, politisch engagierte SchüIer einzuschüchtern, nicht nur in den Schulen, sondern nun auch schon vor den Schulen.“1
„Vom Säugling zum Bückling. Erziehung in der BRD, das Münchner Rationaltheater auf Deutsch-
land-Tournee. ‚Auf dem Schulgrundstück darf nicht erlaubt werden, was Ruhe, Ordnung und Si-
cherheit stört. Wer die Ruhe im Haus stört, muss vom Schulgrundstück verwiesen werden. Die Klassen werden von ihrer Lehrkraft geordnet auf den Schulhof hinuntergeleitet. Die Maßnahme ist zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit erforderlich. Den Ordnern ist daher unbedingt Folge zu leisten. Nach dem ersten Glockenzeichen werden die Klassen von ihren Lehrkräften in die Klassenzimmer zurückgeführt. Das Lehrerpult ist für die Kinder tabu. Ein sauber aufgeräumtes Lehrerpult erzieht die Schüler zur Ordnung und Sauberkeit.’ Das ist keine Satire, das ist die Schul-
ordnung der St.-Anna-Schule zu München. Diese und ähnliche Scherze verbreitet das Rational-
theater im Februar von Freiburg über Hessen, Rhein und Ruhr bis nach Niedersachsen hinauf. Auf die Litfaßsäulen schauen, Freunde! Unbedingt hingehen!“2
In Münchner Schulen gibt es Schichtunterricht; die Klassen sind viel zu groß. Es entsteht eine neue Bürgerinitiative.3 – Gleichzeitig nehmen die, die eine Alternative zum staatlichen Schulwesen auf-
bauen, eine Niederlage hin: Die „freie Schule“ in der Rheinstraße in Schwabing muss im August schließen.4
Am 12. Oktober demonstrieren etwa fünfhundert Schülerinnen und Schüler gegen den Entwurf einer „Allgemeinen Schulordnung“ (ASchO).5 Bayerns Schülerschaft hat lediglich drei Exemplare des Entwurfs zur Verfügung gestellt bekommen. Die AschO tritt mit dem Schuljahr 1974/75 in Kraft. Am 15. Oktober demonstrieren wieder fünfhundert Schülerinnen und Schüler zum Kultus-
ministerium.6
Am 12. Dezember protestieren Schülerinnen und Schüler im Rathaus gegen die Schulraumnot.7

8
Die bayrische Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gibt jedes Jahr einen Kalender heraus. Das Titelblatt und den Januar 1974 gestaltet Wieland Sternagel.
(zuletzt geändert am 8.12.2025)
1 Z’samm. Schülereigene Zeitung für ein demokratisches Bildungswesen 1/1973, 11.
2 konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 6 vom 1. Februar 1973, 44.
3 Siehe „Bürgeraktion gegen den Schulnotstand“.
4 Siehe „Nachruf“ von Inge Heinrichs.
5 Vgl. Süddeutsche Zeitung 237/1973.
6 Siehe „Mittelalter“. Zu den Auswirkungen der AschO vgl. Cordula von Godin: „Die rechte Schulordnung“ in Martin Gregor-Dellin/Wolfgang R. Langenbucher/Volker Schlöndorff (Hg.), Das andere Bayern. Lesebuch zu einem Freistaat, München 1976, 99 ff.
7 Vgl. Süddeutsche Zeitung 289/1973.
8 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung