Flusslandschaft 1970
SchülerInnen
„… Je mehr nutzloses Wissen ein Mensch zu lernen gezwungen wird, um so weniger nützliches Wissen kann er aufnehmen. Je mehr Stunden besetzt sind durch tote Sprachen und durch Ge-
burtsdaten, um so weniger Stunden bleiben übrig, Zusammenhänge zu zeigen, die dem eigenen Interesse dienen. – Wenn die mächtigsten Männer dieses Landes ihre Hauptbeschäftigung darin erblicken, Gegenstände herstellen zu lassen, um durch deren Verkauf den Abstand von der Mehr-
heit zu vergrößern, und damit ihre Macht, dann können sie nicht einen Lehrplan fördern, der für Menschen geeignet ist, die ihre Hauptbeschäftigung darin erblicken müssen, Waren zu erwerben. – Die Zahl der Stunden, in denen unterrichtet werden kann, ist nicht unendlich. Die Lehrer und Schüler werden müde. Die Schüler werden älter. Das Geld der Eltern ist begrenzt. Neue Schüler drängen nach. Diese Umstände verringern den Spielraum der Menschen, die den Lehrplan ma-
chen. Die Verringerung des Spielraums zwingt zur Auswahl. Wenn Eduard Mörike in der Schule wichtiger ist als die Mechanik, durch die das Schulgebäude hergestellt und bezahlt wird, in dem wir täglich arbeiten, dann muß man ein Narr sein, wenn man glaubt, daß ein solcher Unterricht unseren Interessen diene. – Die schwächste Stelle der Gesellschaft ist die Schule. Man kann keinen Unterricht erteilen, wenn die Klassen von Polizisten besetzt sind und auf dem Hof ein Wasserwer-
fer steht. – Bisher sind die Schüler in die Schule gegangen wie brave Lämmer zur Schlachtbank. Sie haben die Thesen geglaubt, die nicht ihnen, sondern den greisen Händlern nützen. Der größte Ab-
schnitt dieses Zeitraumes ist vergangen. Wir werden den Einschnitt machen. Wir werden die Fer-
tigung von Untertanen stoppen. Es geht darum, wie wir unser Leben verbringen. Noch nie haben so viele Schüler gewußt, was das ist – eine Schule: Eine Dressuranstalt, in der man lernt, Unglaub-
liches für selbstverständlich zu halten und fremde Interessen für die eigenen. Wenn unsere Väter, selbst durch die Schulen ihrer Unterdrücker verängstigt, noch heute nach den Lehren handeln, die sie einst als Schüler schlucken mußten, dann beweist das, daß wir unsere Gesellschaft in der Schule verändern müssen. Niemand kann uns diese Arbeit abnehmen, die wichtiger ist als jede andere Ar-
beit. An uns liegt es, wie die zukünftigen Arbeiter und Angestellten und Wissenschaftler und Leh-
rer denken. Die Mächtigen können Panzer auffahren lassen gegen Schüler, die den Unterricht selbst organisiert haben. Und wenn sie Panzer auffahren lassen – um so besser für uns! Jeder Feh-
ler, den die Herrschenden machen, ist eine Sprosse unserer Leiter! Wenn wir die Schulen nicht verändern, werden unsere Gedanken weiterhin unsere gefährlichsten Feinde sein.“1
Nachdem rund vierzig Eltern einen Protestmarsch ins Rathaus unternommen haben, wird am 23. Oktober der Schichtunterricht an der Implerschule im Westend abgeschafft.
Manche Schulleitungen reagieren auf die Unruhe unter den Zöglingen nur zögerlich oder über-
haupt nicht. Das Bild in der Öffentlichkeit und natürlich vor dem Kultusministerium darf nicht beschädigt werden. Auch Lehrerinnen und Lehrer erwähnen nur ungern, dass sie die Kinder nicht mehr so recht „im Griff“ haben. Einige Schulleitungen dagegen gehen in die argumentative Offen-
sive.2
Kultusminister Ludwig Huber im Bayernkurier : „Es wäre eine unerlaubte, ja beinahe verbrecheri-
sche Manipulation, die Schule als Mittel zum Zweck des gesellschaftlichen Umsturzes zu missbrau-
chen.“3
„… Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik haben die Kinder reicher Eltern so viele Privilegien, die Lehrer so wenig Spielraum, die Eltern so wenig zu sagen, die Studenten so wenig Mitbestimmung, die Hochschulen so wenig Möglichkeiten zu inneren Reformen. Franz Josef Strauß im Bayernku-
rier: ‚Bei uns hat es immer mehr Privilegien und standesmäßig Denkende gegeben als anderswo.’ …“4
(zuletzt geändert am 22.4.2025)
1 E.A. Rauter, Über das Herstellen von Untertanen, In: kürbiskern. Literatur und Kritik 1/70, München, 48.
2 Siehe „An alle Schüler der Anne-Frank-Realschule“.
3 Zitiert in konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 24 vom 19. November 1970, 11.
4 A.a.O.