Materialien 1964
Danksagung für den Schwabinger Kunstpreis
Juli 2010
Ich bin in Schwabing in der Mandelstraße geboren, ich hab hier als Kind gewohnt, Nikolaiplatz/Dillisstraße, später in der Hiltenspergerstraße. Und als meine Eltern nach Unterföhring gezogen sind, da bin ich ab 1962 immer noch jeden Tag mit dem Bus wieder durch den englischen Garten zum Nikolaiplatz gefahren, um 4 Jahre im Maxgymnasium auf die Schule zu gehen – (bis dann das Altgriechisch in der 5. Klasse anfing, da wars dann schnell aus mit dem Humanismus bei mir). Ich erfülle mithin gewissermaßen alle Voraussetzungen für einen Schwabinger Preisträger – ob nun für Kunst oder für irgendetwas anderes, für kontinuierliches Weißbiertrinken am chinesischen Turm zum Beispiel.
Ich danke der Jury für diesen Preis sehr. Ich war doch ziemlich gerührt, als ich es erfahren habe, denn ich fühle mich nun hiermit offiziell zum ewigen Schwabinger berufen. Inoffiziell fühle ich mich schon länger ein wenig so, weil einem ja irgendwann, wenn man älter wird, jede Straße, jeder Platz hier in Schwabing eine private oder öffentliche Geschichte erzählt – mal scheinbar völlig nebensächlich, mal biographisch schwerwiegender. Und diese Geschichten sind wie Filter-Gläser, durch die man auf all die Orte schaut. Sie bilden private Ablagerungen über dem Zustand der Jetzt-Zeit.
Eine Geschichte will ich Ihnen kurz weitererzählen, weil sie in diesen, meinen Bus-Schulweg von damals zum Maxgymnasium, eine kleine Widerstandsgeschichte mit einschließt – meine Schwabinger Generation betreffend.
Ich hatte einen Freund, der ging am Maxgymnasium in dieselbe Klasse wie ich, war ein Jahr älter und hatte früh seinen Vater verloren – was mir selbst damals noch bevorstand. Er redete immer gerne viel, und war – im Gegensatz zu mir – meistens sehr heiter. Aber nicht nur das: er hatte schon einen imponierenden Vortrag in der Klasse über die Kubakrise gehalten und war überhaupt weltoffen und ungewöhnlich politisch interessiert für seine 13 oder 14 Jahre. Außerdem hatte er mit zehn Jahren, also in der 5. Klasse, bereits eine Art frühe Pilzfrisur a la Prinz Eisenherz getragen – Haare bis über die Ohren – ein Erscheinungsbild, mit dem man ja damals eigentlich noch gar nicht im Gymnasium auftauchen durfte.
Jeden Morgen trafen wir uns am Herkomerplatz in Bogenhausen oben, ich kam aus Unterföhring, er mit einem damals noch roten Bus aus Johanneskirchen, und wir bestiegen gemeinsam den 54er-Bus zum Nikolaiplatz, setzten uns rein, warteten bis er losfuhr.
Eines Morgens, so 1964, (etwa 2 Jahre nach den Schwabinger Krawallen) es war ziemlich kalt, da füllte sich der Bus erst nach einer Weile und dann sehr schnell ganz enorm mit vielen Leuten. Und als wir beide da immer noch auf unseren Plätzen sitzen blieben, stieg zügig das Gemurr immer lauter an, wieso wir Jugendliche denn überhaupt einen Sitzplatz beanspruchten. Ich stand natürlich sofort auf, nicht weil ich die Höflichkeits-Befehle einsah, sondern weil ich Furcht vor Konsequenzen hatte – mein Freund blieb sitzen.
Er blieb sitzen bis zur Montgelasstraße, bis zur Tivoli-Brücke, durch den englischen Garten. Die Empörung schwoll immer lauter an, wie das damals halt so war, sein Kopf wurde immer röter über seinem froschgrünen Steppanorak, in den er sich vergrub. Aber er blieb sitzen, starr geradeaus schauend.
Die Wintermäntel um uns herum rochen nach Zigaretten und Zigarren, die Damen morgens nach Lavendel und anderem, die Scheiben beschlugen – nicht nur von der Wärme – sondern auch von der Wut. Überall – manche erinnern sich vielleicht – waren Schilder angebracht: „Für Schwerversehrte freizugeben“. Und diese ganze erwachsene mehr oder minder versehrte Nachkriegs-Gesellschaft schimpfte nun also unisono, mal anschwellend lauter, mal leiser, während der kahle englische Garten vorbeisauste.
Man stellte Mutmaßungen über das zweifellos verkommene Elternhaus an, aus dem solche Unbotmäßigkeit kroch … Er blieb sitzen. Weil jeder Satz, der gegen ihn gerichtet war, jeder Satz, der sich auf zu errichtende Arbeitslager für Jugendliche bezog, jeder Satz, der Hohn über die schlimme Müdigkeit der heutigen Jugend zu gießen versuchte – jeder Satz gab ihm recht. Hier passierte – das habe ich natürlich erst im Nachhinein begriffen – ein Widerstand. Einmal schaute er mich während des Gezeters an, ich kringelte mich vor Peinlichkeit, aber sein Blick zeigte mir klar an, dass ich mich ab jetzt als Verräter zu betrachten hatte.
Handgreiflich wurde übrigens niemand.
Nach dem Kiskaltplatz, also eine Haltestelle vor der Endhaltestelle, es wurde bereits etwas leerer (und ich genoss von meinem Stehplatz an der Mitteltür aus wie immer den erhöhten Blick auf den ewig verschlossenen Märchengarten des Münchner-Rück-Palastes) da stand er plötzlich auf und ging – so wie heute kurz vor Spielschluss ausgewechselte Fußballspieler – bemüht langsam an den Maulern vorbei Richtung Mitteltür. So als wollte er sich der bleibenden Feindschaft der Anwesenden nochmals versichern. Er lächelte dabei ein bisschen. Sein Blick ging an den Passagieren vorbei. Applaus bekam er natürlich keinen, nur nochmal mehrere „das wurde ja auch Zeit“ etc.
Wir stiegen zusammen aus und gingen schweigend den Weg von der Endhaltestelle Nikolaiplatz hinten rum durch die Beich-Straße, dann abbiegend in die Leopold, weiter wortlos, dann bei der Münchner Freiheit – die zu allen Zeiten, an die ich erinnern kann, eine Baustelle war – die Straßenseite wechselnd, um dann nach der Clemens-Straße, ab der Ecke Morawitzkystraße endlich auf weitere Mitschüler zu stoßen – so dass das Schweigen ein Ende hatte.
Wir blieben trotzdem Freunde. Er war der einzige Mitschüler, der mich anrief nach dem Tod meines Vaters, als ich deswegen eine Woche lang von der Schule befreit war. Ich höre noch seine Stimme durch den Hörer, ich sehe vor mir unser schickes weißes Bakelittelefon zu Hause, auf einem futuristischen Ständer der 6oer stehend, passend zum weißen Schafwollteppich, der ein sündteurer Vorläufer war des späteren allenthalben geliebten Flocati war … Ich war ihm sehr dankbar für seinen Anruf. Wir blieben Freunde recht lange noch, auch als ich später längst im Internat war. Er wurde ein Schauspieler im jungen deutschen Autoren-Kino, seine Welt wurde mir immer fremder, wenn ich ihn in den Ferien sah – und irgendwann nahm er mich mal nachts mit ins „Blow up“, in die Riesendisko am Elisabethplatz (wo heute das Theater der Jugend drin ist) und dort – in einem Gewühl von Hippieschweiß und Selbst-Entäußerung der EndSechziger, da verloren wir uns dann endgültig aus den Augen.
Aber an einem Abend im Oktober 1977 sah ich sein Gesicht sehr überraschend wieder, im Fernsehen. Nicht als Schauspieler, Es war der Abend, als der Steckbrief der Mittäter bei der Schleyer-Entführung von den Nachrichten veröffentlicht wurde.1
Und so ist der Weg, den der Bus 54 noch heute durch den englischen Garten fährt, für mich immer verbunden mit einem Weg, den ich sozusagen als geborener Schwabinger Nur-Lebens-Zuschauer- nicht mitgegangen bin. Herkomerplatz, Montgelasstraße, Tivolibrücke, Chinesischer Turm, Kiskaltplatz, Nikolaiplatz 5, Stationen deutscher Hass – und Gegenhass.
Es konnte ja alles, was später kam, gar nicht anders ablaufen, als es dann ablief.
Ich danke Ihnen sehr.
Dominik Graf, Juli 2010
1 Christof Wackernagel, 1951 in Ulm geboren, spielt 1967 seine erste Hauptrolle im Film „Tätowierung“. Im November 1977 wird er in Amsterdam festgenommen; Vorwurf: Mitgliedschaft in der RAF. Ab 1984 tritt Claus Peymann, damals Intendant am Bochumer Schauspielhaus, für eine vorzeitige Entlassung Wackernagels ein; Bernhard Worms, der CDU-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, spricht sich dagegen aus. 1986 kommt Wackernagel in den offenen Vollzug und kann ab August als Regie- und Dramaturgieassistent am Bochumer Schauspielhaus arbeiten. Nachdem er zwei Drittel der Strafe verbüßt hat, wird er 1987 unter Auflagen aus der Haft entlassen. 1992 erhält er den „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur“.