Materialien 1999
Die Preisverleihung „Aufrechter Gang“ am 28. Januar 1999 in München
Am 28. Januar wurde in München der Preis „Aufrechter Gang“ an das Ehepaar Sepp Obermeier und Chung Yee Tang-Obermeier aus Bruckmühl überreicht. Damit drückte die HU-München ihre Anerkennung aus für den Mut, der Preisträger gegen die Intoleranz der Stammtische und das staatlich-bayrische Vorurteil, wonach allein die öffentlich zur Schau gestellten christlichen Symbo-
le den Werteverfall aufhalten können.
Der symbolische Preis (eine Figur. die entweder als stacheliger Kaktus oder als aufrecht gehender Mensch gesehen werden kann) wird Bürgern aus Bayern verliehen, die unter persönlichen Opfern nicht jedes Handeln staatlicher oder gesellschaftlicher Organe kritiklos hinnehmen und sich auch vom Druck der „Volksmeinung“ nicht beirren lassen. Im Falle der Preisträger entstand die Ausein-
andersetzung, weil sie auf dem Grundrecht bestehen, dass ihre Kinder in einem Schulraum ohne religiöse Symbole unterrichtet werden.
Es ist für Bayern wohl am treffendsten von Gerhard Polt formuliert worden: Wir brauchen keine Opposition, denn wir sind schon demokratisch!
Darin drückt sich ein tiefes Missverständnis einer demokratischen Gesellschaft aus, denn deren Prüfstein ist nicht die große Mehrheit, sondern ihr Umgang mit den Minderheiten.
Tim Hering
_ _ _
Laudatio zur Preisverleihung
gehalten von Dr. Klaus von Welser (in Auszügen)
… Das Ehepaar Obermeier lebt in Bruckmühl. Eine Tochter geht dort zur Schule. Seit 1995 kämp-
fen Obermeiers darum, dass in den Klassenräumen keine Kreuze hängen. Zunächst schien es, als hätten sie Erfolg. Im August 1995 hatte das Bundesverfassungsgericht seinen berühmten Beschluss veröffentlicht, dass die Vorschrift im bayerischen Schulrecht, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, „mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig“ ist. Das Verwaltungsge-
richt München erließ eine entsprechende Einstweilige Anordnung, die Schule in Bruckmühl sperr-
te sich erst, leistete aber doch Folge, wenngleich nur auf Androhung von Zwangsmaßnahmen. Dann, durch das neue: bayerische Kruzifixgesetz bricht der Streit erneut aus. Nach langem Hin und Her gelangt auf dem Weg über das Bayerische Verwaltungsgericht die Sache endlich zum Bun-
desverwaltungsgericht. Dort wird möglicherweise in diesem Frühjahr entschieden.
Zur zeit- und geldraubenden gerichtlichen Auseinandersetzung kommen weitere mit Schulbehör-
de, Religionslehrerin, Elternbeirat. Demonstratives Tragen großer Pappkreuze auf Anleitung der Religionslehrerin. Eine andere Lehrerin weigert sich, die Tochter zu unterrichten. Statt die Lehre-
rin zu versetzen, will die Schule die Tochter versetzen, Telefonate, Beschwerden, keine Einigung. Dann der große Coup: gegenüber dem Hause der Obermeiers wird ein überdimensionales Kreuz errichtet, damit sie es ständig vor Augen haben. Auch hier wieder gerichtliche Auseinandersetzun-
gen, erfolglos, weil Privatgrundstück, aber nicht folgenlos für die Menschen. Was sagt man zu sol-
cher Provokation? Man sagt zum Beispiel einen Satz von Lichtenberg: „Ist es nicht merkwürdig, dass die Menschen so gern für die Religion fechten und so ungern nach ihren Vorschriften leben?“
So viel Rechthaberei, Drohbriefe, Auftritte, Ausschmieren und Anschmieren, Nasedrehen und Be-
drohen, Nicht-mehr-miteinander-Reden und Hinterm-Rücken-Tuscheln, skurrile Unterstellung, Absurdes alltäglich, nicht zu fassen. Es ist begrifflich nicht zu fassen und praktisch nicht zu bewäl-
tigen. …
Warum ist denn das so schwer? … Wie kommt es denn, dass wir uns menschenunwürdige Vor-
schriften machen lassen. Vorschriften, die sogar unserem Gesetz widersprechen wie z.B. dem Grundgesetz der Religionsfreiheit?
Soviel ich habe herausbringen können, sind auch beide Eheleute Obermeier nicht als Helden ge-
boren worden. Beide Mitte der 50 Jahre zur Welt gekommen, Chung Yee Tang in Hongkong, Sepp Obermeier in Bruckmühl, beide mit religiöser Erziehung. Sie haben ihre Berufe erlernt, sie Indu-
striekauffrau, er Ingenieur, also normale Menschen im besten und harmlosesten Sinne dieses Wortes. Und ich kann auch nichts Ungewöhnliches daran erkennen, dass beide zur Kirche in Di-
stanz gingen bzw. austraten, da haben sie ja noch ein paar Millionen Deutsche an ihrer Seite …
Warum also – die Frage ist noch nicht beantwortet – braucht es bei uns so viel Mut, einen eigenen ersten Schritt zu tun und den Aufrechten Gang zu beginnen? Leben wir nicht in aufgeklärten Zei-
ten, haben wir nicht die Demokratie und den Rechtsstaat, und ist nicht heute eher zu viel erlaubt auf allen Feldern als zu wenig?
Die Antwort heißt wohl, wir haben aufgeklärte Zeiten und Demokratie und Rechtsstaat, und vieles ist erlaubt, das früher verboten war – aber, das sind papierene Worte, bloße Wörter, wenn nicht konkrete Menschen im einzelnen konkreten Fall den Mut aufbringen, die Regeln in Frage zu stel-
len. All die genannten edlen Begriffe sind nichts wert, und die Normen, für die sie stehen, können über Nacht gestrichen werden, wenn wir die wesentliche Essenz nicht begreifen, dass die Minder-
heit lebensnotwendig ist. Denn sonst wären wir eine bloße Massengesellschaft. Es ist erschreckend, dass ein Bischof seinerzeit ankündigen konnte, er wolle dafür sorgen, „dass uns bayrischen Chri-
sten nicht von einer verschwindend kleinen Minderheit egoistische Einschränkungen diktiert wer-
den“. (Eder, Passau)
… Hier wird schon ungefähr deutlich. warum es heute immer schwerer wird, seine individuellen Rechte zu nutzen (übrigens nicht nur egoistisch. sondern womöglich auch zum Wohle der Ande-
ren, z.B. wenn man persönlich etwas Neues testet); schwerer auch dort, wo es formal rechtlich noch möglich wäre: in der Massengesellschaft. …
Der vollständige Text der Rede von Klaus von Welser kann über den Ortsverband der Humanisti-
schen Union München bestellt werden.
Mitteilungen der Humanistische Union 165 vom Januar 1999, 24.