Materialien 1958

Wir müssen uns nicht einbilden, wir hätten es schon geschafft

Konrad Kittl

Geboren wurde ich in München am 12. Januar 1931. Ich arbeite heute noch als Rechtsanwalt.

Ein zentraler Ausgangspunkt

Um sich dem Thema „Protest in München“ sinnvoll zu nähern, kann eine zentrale These, die Anhaltspunkte für die Bewertung der Ereignisse bietet, hilfreich sein.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Bürgerrechte, die in unserer Verfassung zunächst nur bedrucktes Papier waren, Schritt für Schritt konkret und real geworden sind. Ministerpräsident Goppel meinte einmal, der Begriff „Staat“ käme von status, von stare, er müsse daher so bleiben, wie er ist. Er argumentierte hier gegen die permanente Transformation des Staatswesens. Das Bundesverfas-
sungsgericht dagegen hat entschieden, dass es die dauernde Aufgabe des Sozialstaats sei, seine Grundrechte zu dynamisieren. Dabei verwirkliche er nicht nur Abwehrrechte, sondern auch Teilhaberechte.

Die Verwirklichung des Sozialstaats sei eine Staatsaufgabe. Dazu finden sich genügend Hinweise
in der Begründung des KPD-Urteils. Die Verfassung sei die Demarkationslinie, die zwischen den verschiedenen Interessen je nach den Machtverhältnissen hin und her geschoben wird, die aber grundsätzlich sagt: „Bis hierher und nicht weiter!“

Der Wandel im Verhältnis zwischen formalen Rechtsformulierungen und realer Rechtsverwirk-
lichung bietet den Leitfaden, der uns zeigt, wie sich die Dinge entwickelt haben. Wenn ich an die Ladenschlussdemonstrationen oder an die Aktivitäten der APO denke, dann wurden diese Proteste polizeilich und justiziell mit uralten Strafgesetzen unterdrückt. Man sprach von „Auflauf“ und „Aufruhr“. Eine Sitzblockade galt als „schwerer Landfriedensbruch“, der mit Zuchthaus zu ahnden war. Infolge der Aktivitäten der APO und durch Reformen der sozialliberalen Koalition wurden die Strafbestimmungen erheblich reduziert.

Es ist daher sinnvoll, exemplarische Ereignisse der Protestgeschichte Münchens im Spannungsfeld einer sich ändernden Strafverfolgung zu beleuchten.

Genauso sinnvoll ist der Blick auf den beständigen Konflikt zwischen bürgerlichen Grundrechten und polizeilichen Interessen. Rechte von Demonstranten sind natürlich Hindernisse polizeilichen Handelns.

Der politische Streik – der Generalstreik

1952/53 bestreikten die Gewerkschaften als Protest gegen das gerade verabschiedete Mitbe-
stimmungsgesetz Zeitungen. In der Folge entstand die höchstrichterliche Vorstellung, dass ein „politischer Streik“ nicht zulässig sei.

Für die Wiederbewaffnungsdebatte belebte der DGB die „Revue“ wieder. Ich erinnere mich an zwei eindrucksvolle Veranstaltungen, einmal an die im Universum-Kino in der Sonnenstraße. Viele professionelle Schauspieler wirkten mit. Nach einer Szene aus Anne Franks „Tagebuch“ dekla-
mierte ein Schauspieler aus Brechts „Gutem Menschen von Sezuan“, was ich nie vergessen habe:

Eines Tags, und das hat wohl ein jeder gehört
Der in ärmlicher Wiege lag
Kommt des armen Weibs Sohn auf ’nen goldenen Thron
Und der Tag heißt Sankt Nimmerleinstag.
Am Sankt Nimmerleinstag
Sitzt er auf ’nem goldenen Thron.

Und an diesem Tag zahlt die Güte sich aus
Und die Schlechtigkeit kostet den Hals
Und Verdienst und Verdienen, die machen gute Mienen
Und tauschen Brot und Salz.
Am Sankt Nimmerleinstag
Da tauschen sie Brot und Salz.

Und das Gras sieht auf den Himmel hinab
Und den Fluss hinauf rollt der Kies
Und der Mensch ist nur gut. Ohne dass er mehr tut
Wird die Erde zum Paradies.
Am Sankt Nimmerleinstag
Wird die Erde zum Paradies.

Und an diesem Tag werd ich Flieger sein
Und ein General bist du.
Und du Mann mit zuviel Zeit kriegst endlich Arbeit
Und du armes Weib kriegst Ruh.
Am Sankt Nimmerleinstag
Kriegst armes Weib du Ruh.

Und weil wir gar nicht mehr warten können
Heißt es, alles dies sei
Nicht erst auf die Nacht um halb acht oder acht
Sondern schon beim Hahnenschrei.
Am Sankt Nimmerleinstag
Beim ersten Hahnenschrei.

Bei der Veranstaltung im Schauspielhaus, die sich gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr richtete, trug ein Schauspieler zunächst den Bericht eines bei Atomversuchen verseuchten Fischers vor. Im Anschluss daran trug der DGB-Chor das „Lied von der Solidarität“ vor. Das war ungeheuer eindrucksvoll.

Im März 1958 kam es bei der ÖTV zu Beschlüssen, gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr zum Generalstreik aufzurufen. Bei der bayerischen Bezirkskonferenz stimmten am 10./11. März 94,9 Prozent für gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen. Der ÖTV-Vorsitzende Adolph Kummernuß plädierte für das Mittel des „politischen Streiks“. Das Bundesverfassungsgericht verbot im selben Jahr eine Volksbefragung zur Atombewaffnung.

Und heute …

Es ist ja nicht so, dass Ungerechtigkeit hier oder dort vorkommt; Ungerechtigkeit ist ein Grundprinzip. Die Eigenschaft als Bock ist die Zugangsvoraussetzung zum Gärtnerberuf.


Gespräch G. Gerstenbergs mit Konrad Kittl am Montag, 21. April 2009, in seiner Wohnung, 16 – 19 Uhr.

Überraschung

Jahr: 1958
Bereich: Bürgerrechte