Materialien 2011
Kritische Stimmen
Lieber Günther,
vielen Dank für die Weiterleitung der mannigfachen Infos und Aktionen zu diesem wichtigen Thema. Wirklich enttäuscht bin aber schon, dass keiner von Euch z.B. Kulturreferat u.a., an den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gedacht haben, der schon seit 1970 in zahlreichen literarischen Publikationen seinen Protest gegen die sozialen Missstände in der Stadt und im Land artikuliert hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass nur die ‚lautesten’ Protestierer die ‚echten’ Protestierer sind und die andern als unwichtig abqualifiziert werden! Das finde ich sehr schade und finde es auch bedauernswert, dass unsere kritische Stimme nicht nur vom ‚Freistaat Bayern’, sondern auch von den linken Gruppierungen und denen, die sich dafür halten, zum Schweigen verurteilt wird. Das ist doch eine seltsame Koalition der Willigen! Es ist meines Erachtens auch ein Armutszeugnis der Protesthistoriker, die einen Teil der Menschen, die sich kritisch gegenüber der Bürokratie- und Staatsautorität geäußert haben, einfach ausblenden und damit ihrer sozialethischen Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Darstellung geschichtlicher Ereignisse nicht nachkommen!
Missfallen hat mir ferner, dass Ihr sehr viele ‚Amerikanismen’ eingebaut habt, die sogar viele Engländer verabscheuen. Damit wird auch Euer Protest gegen die Kulturüberwältigung durch das Dollarimperium nicht glaubwürdiger.
Aber Ihr seit halt die ‚Mehreren’ und habt von der CSU doch schon etwas gelernt.
Ciao
Markus und viel Erfolg mit Eurem Thema
Brief von Markus Dosch, Vorsitzender des_Werkkreises Literatur der Arbeitswelt-, München (8. April 2011)
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Wolfgang Blaschka erfährt, dass sich einige Zeitgenossen darüber erregen, dass in der Eröffnungsveranstaltung nur schöne Reden gehalten wurden und nichts wirklich Kritisches geschah.
… Da hast Du’s gesagt. Ich bin sehr froh, dass Du jetzt nicht in Katzenjammer verfällst. Und überhaupt: Seien wir doch froh, wenn die Musealisierung unseres Protests noch zu unseren Lebzeiten stattfindet, dann können wir wenigstens noch dagegen protestieren. Andererseits, wenn es so eine Veranstaltungsreihe nicht gäbe und sich kein Schwein dafür interessieren würde, wär’s uns auch wieder nicht recht. Oder liegt etwa die höchste Form von Würdigung irgendeiner Sache in ihrer offiziösen Nichtbeachtung? Ausgerechnet wir Protagonisten des Protests sollten doch da nicht böse sein, wenn Provokation, Protest und widerständige Performance auch rückblickend öffentlich sichtbar gemacht werden, oder? Seien wir nicht allzu puristisch, und verabschieden wir uns von der sektierischen Haltung, dass Protest nur dann echt ist, wenn er von Knüppeln und Wasserwerfern nieder gemacht wird. Ermuntern wir lieber das Wutbürgertum zum Mutbürger-Tun! Gruß. Wob (10. April 2011)
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Nach Kenntnisnahme des Vorwurfs, dass einzelne Leute sich herausnehmen, ohne breite konsensuelle Zustimmung der linksalternativen Szene deren Geschichte zu schreiben, meint Wolfgang Blaschka:
Boah! Da hat irgendein Altautonomer (oder ein jugendlicher Heißsporn-Aktivist in den Fußstapfen seines Uralt-Vorbilds?) mal ganz klar gesagt, wo’s langgeht: Ein (selbsternannter) Zentralrat soll tagen, eine Voll- oder noch besser Volksversammlung wird einberufen, um zu klären, wer zur linksalternativen Szene gehört, dann wird die erbärmliche Riege der Kuratoren und Veranstalter vorgeladen (unter anderen auch die Ideengeber, Sammler und parlamentarischen Initiatoren Sigi Benker und Günther Gerstenberg, mit hochrotem Kopf und kiloweise Material unterm Arm, in Büßerpose), die sich vor der Versammlung, welche für drei Wochen in Tagungspermanenz veranschlagt ist (VoKü und Schlafsäcke werden vom Kulturreferat gestellt), zu rechtfertigen haben, jedes Veranstaltungsmodul erklären und politisch, soziokulturell und praktisch-didaktisch begründen müssen, Ausstellungskonzepte erörtern und bis ins kleinste Detail zur Abstimmung stellen. Sodann (allein der Material-Vortrag erstreckt sich über zweieinhalb Wochen jeweils zehn Stunden im Audimax, bei großem Andrang im Zirkus Krone, der dafür enteignet werden muss), erfolgt die Generalaussprache. Abends ist frei zum Aktenstudium. Es wird über jeden einzelnen Punkt zuerst diskutiert, dann abgestimmt und schließlich beschlossen. Die Mehrheiten finden sich nach zufälliger Anwesenheit, denn niemand sitzt drei Wochen lang auf seinem Platz wie festgenagelt, sondern diskutiert im Foyer oder in der Cafeteria mit diesem und jenem über dies und das, vor allem über die Frage: Kommen wir da auch genügend drin vor? Gibt es jemanden, der mehr vorkommt oder kommt es uns nur so vor? Mit der Zeit lichtet sich das Auditorium, erste Ermüdungserscheinungen greifen Platz. Echte Protestler müssen zwischendurch immer wieder hinaus auf die Straße. Krankheitsausfälle mehren sich (beliebteste Ausrede: “Ich muss mich mal wieder um meinen Job kümmern”, Rang zwei: “Meine Freundin hat angerufen, ich soll dringend bei ihr antanzen, ich glaub, eine Glühbirne ist geplatzt oder so”, und bei Eltern obligatorisch: “Ich muss zum Kindergarten, die Kleine abholen”). Übrig bleiben die Hardcore-Profidiskutanten. In jedem Fall ist mit diesem Prozedere gewährleistet, dass die Härtestgesottenen mit dem unempfindlichsten Sitzfleisch und den besten Geschäftsordnungstricks ihre bestumstrittensten Aktionen oder Kadergruppen auch nach Mitternacht noch durchbringen, wenn alle bereits abgeschlafft sind und die Hand nicht mehr zur Abstimmung heben können vor Ermattung, oder weil sie den Überblick restlos verloren haben zwischen den Fraktionen, Anträgen und bereits beschlossenen Tagesordnungspunkten. Ganz am Ende wird der einstimmige Beschluss gefasst, dass man eine solche Veranstaltungsreihe gar nicht brauche, solange die Periode der Proteste noch nicht abgeschlossen sei. Man könne ja die gesamte Dimension dieser historischen Ära noch gar nicht angemessen geschweige denn wissenschaftlich fundiert würdigen. Ergebnis: Günther Gerstenberg wirft das Handtuch, Sigi Benker springt ab und Ruth Oppl und Andrea Naica-Loebell formulieren einen neuen Antrag ans Kulturreferat für eine städtisch bezahlte aktionsfreie Auszeit von mindestens einem halben Jahr, um neu zu recherchieren. Der Ältestenrat nickt das höchsterfreut ab und ist froh, dass das Tomateneier-Kleckerplakat nun doch nicht geklebt werden muss. Besser nichts als sowas, denkt sich auch der Bürgerking und lässt aus großen Körben Brot und Brezn verteilen. Dazu ruft er sogar persönlich zum Pressetermin am Fischbrunnen jovial in die Kameras: “Brot esst!” Und kann so sein Deutungshoheits-Monopol über Brot und Spiele, über Zuckerbrot und Peitsche widerstandslos zurückerobern. Nur gut, dass wir darüber auch mal geredet haben: Solche Gästebucheintragungen können bei mir Albträume auslösen, bleiben aber glücklicherweise halbgegorenes Geschreibsel. Wehe, wenn wir mal wirklich was zu sagen haben sollten! Mir graut vor uns. Und vor allem vor solchen “GenossInnen”. Da wäre schnell Schluss mit Genuss bei solchen “demokratorischen” Zensoren, die eigentlich nur angesäuert sind, weil sie nicht als Delegierte ins Zentral-Administrations-Exekutivkomitee gewählt worden sind. Was ist eigentlich linksalternativ? Gibt es da vielleicht noch Alternativen? Und: Habe ich jetzt hier etwa für alle gesprochen?! Gruß. Wob (11. April 2011)