Materialien 1966
Zivilcourage und Gehorsam
Appell an den „Spießbürger in Uniform“
von Peter Eichhorn
„Den Mut, den wir wünschen und preisen, ist nicht der Mut,
anständig zu sterben, sondern wie ein Mann zu leben.“
(Thomas Carlyle. Brit. Historiker, 1795 – 1881)
1. Mangelnde Zivilcourage als Zeichen der Zeit
Bismarck hat bereits darauf verwiesen, dass die Deutschen sich durch Mut auf dem Schlachtfeld auszeichnen würden, im öffentlichen Leben jedoch wenig „Zivilcourage“ zeigten. Dass jedoch diese dem Namen nach dem zivilen Bereich vorbehaltene Tugend auch einem so selbstbewussten Volk wie den Amerikanern von heute mangle, stellte J. F. Kennedy in seinem 1955/56 verfassten und nach seinem Tode veröffentlichten Buch mit dem vielsagenden Titel „Zivilcourage“ fest:
„Ein Volk, das sich nicht mehr der Zivilcourage bewusst ist, die in der Vergangenheit sich bewährt hat, wird kaum diese Eigenschaften zu ehren wissen – wir haben tatsächlich diesen Mut völlig vergessen.“1 Die Schicksale mutiger Senatoren, die Kennedy anführt, verdeutlichen, warum es sich hier um eine so seltene Tugend handelt: bringt sie doch höchstens nach dem Tode Ehre und Würdigung und zu Lebzeiten eine Skala möglicher Übel ein – angefangen von Rufmord, Neutralisierung beruflicher Wirkungsmöglichkeiten, wirtschaftlichem Ruin bis zur tätlichen Bedrohung oder gar Liquidierung. Auf Grund dieser allgemeinen Vorbemerkungen kann bereits festgestellt werden, dass das Auftreten mangelnder Zivilcourage heute weder auf das Deutsche Volk noch einen bestimmten Bereich der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Bundeswehr, beschränkt ist. Wie jüngst (Ostern 1966) die Sendung des Jugendfunks des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel „Stiefmutter Courage“ zeigte, sind in Industriebetrieben ähnliche Symptome feststellbar, welche die Wochenzeitschrift „Stern“ unter dem Stichwort der Rede „Mit vorgehaltener Hand“ bei den „Jungen Leutnants von heute“ aufspürte.2 Mangelnde Zivilcourage ist also im Verein mit dem gemeinhin bekannten Hang zur Flucht in die Anonymität und zu konformen Reaktionen anstelle von verantwortungsbewussten Aktionen ein Merkmal des Menschen in den modernen Industriegesellschaften überhaupt.
2. Neue Formen des Gehorsams und der Zivilcourage
Die Frage ist nun, ob im militärischen Bereich von heute Zivilcourage notwendig und der Sache zuträglich ist, da sie doch scheinbar einen unauflöslichen Gegensatz zu dem hierarchischen Prinzip von Befehl und Gehorsam darstellt. Die Forderung des Älteren Moltke, dass „die Disziplin … der Grundpfeiler der Armee …“3 sei, hat nach wie vor Gültigkeit. Es haben sich jedoch die Formen zur Erhaltung dieses Prinzips gewandelt!
Die moderne „Auftragstaktik“ würde kaum eine derartige Konfliktsituation aufkommen lassen, wie sie im „Prinz von Homburg“ dargestellt ist, wonach ein nach heutigen Begriffen Kommandierender General – Homburg ist General der gesamten Reiterei des Kurfürsten – den Einsatzbefehl seiner nächsthöheren Dienststelle abwarten muss, obwohl die Entwicklung der Operationen längst ein Eingreifen notwendig machte. Die Delegation erhöhter Entscheidungsfreiheit auf alle Befehlsebenen bringt eine neue Form des Gehorsams mit sich, bei der die Befehlstreue nur durch Sachkenntnis und den Mut zur persönlichen Entscheidung erfüllt werden kann. In diesem Sinne wird die Zivilcourage zum Anteil des Gehorsams. Bestand sie früher darin, den durch Reglement abgesteckten militärischen Rahmen zu verlassen, so bedeutet sie vielmehr heute, den durch Befehle vorgegebenen Spielraum zur Erreichung der militärischen Ziele bis zum letzten auszunützen.
Da „die taktische Führung einer Kompanie … heute schwerer als die eines Regiments von 1914“4 ist, kann sich somit bereits der Führer der kleinsten selbstständigen Gefechtseinheit nicht auf einen ausgebliebenen oder gar falsch gegebenen Befehl berufen, wo seine eigene Initiative hätte einsetzen müssen. Es bleibe dabei nicht vergessen, dass die Auftragstaktik vorwiegend eine Konzeption der Deutschen ist, wie Karst mit seiner Forderung verdeutlicht: „Die deutsche Auftragstaktik muss mehr denn je zu Ehren kommen. Die Bereitschaft zum Risiko bis zum Fehlgreifen in der Wahl der Mittel muss im Führercorps ausgeprägt sein“.5
3. Die Problematik von Zivilcourage und Gehorsam – heute
a. Überforderung des Untergebenen im Kriegsfall
Als Modellfall für Zivilcourage im antiquierten Sinne mag die Gehorsamsverweigerung des Oberstleutnant von der Marwitz dienen, der den Dienst quittierte und auf seinen Grabstein schreiben ließ: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam Unehre gebracht hätte.“6 Er hatte den Befehl Friedrich des Großen, ein Schloss zu plündern, verweigert. Heute bedeutete es Ungehorsam, einen derartigen Befehl zu befolgen: „Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch ein Verbrechen oder Vergehen begangen würde“ (Auszug aus §11: „Gehorsam“. Soldatengesetz). An die Stelle des Trends zum vieldiskutierten Befehlsnotstand wird hier wiederum vom Gesetz her die Ausdehnung der vollen Verantwortlichkeit auf allen militärischen Ebenen sichtbar! Dabei muss angemerkt werden, dass der Befehlsnotstand von deutschen Gerichten nie anerkannt wurde, wie eine diesbezügliche Entscheidung des Bundesgerichtshofes darstellt: „Das Strafrecht kennt keinen Entschuldigungsgrund des blinden Gehorsams und kann ihn nicht anerkennen, weil es damit die Grundlagen der Verantwortlichkeit des Menschen als Person aufgeben würde“ (BGH, Strafsachen, 2, 257).
Trotzdem ist bemerkenswert, wie schwer sich die „Männer des 20. Juli“ ihre Entscheidung machten, Hitler den Gehorsam aufzukündigen. Mit welcher Akkuratheit ist doch in Becks „Aufruf an die Wehrmacht“ die Notwendigkeit des Bruchs mit Hitler begründet: „Eine solche Führung, ob wahnwitzig oder voll verantwortlich, hat den Anspruch auf Gehorsam vor Gott und den Menschen verwirkt, denn sie hat den Eid gebrochen, den sie selbst einst dem Vaterlande geschworen hat …“7 Welche Erschütterung der überkommenen militärischen Ordnung die Handlungsweise des deutschen Widerstandes hervorrief, lässt die Erklärung von Admiral Hansen vom 18. März 1951 vor dem VDS nur ahnen, die nicht umsonst später innerhalb der Bundeswehr verbreitet wurde: „Der Riss, der durch den 20. Juli 1944 in unsere Reihen gebracht ist, muss überbrückt werden. Der eine von uns ist seinem Eide treu geblieben, der andere hat weitergehender Kenntnis aller Vorgänge die Treue zu seinem Volke über die Eidespflicht gestellt. Keinem ist aus seiner Einstellung ein Vorwurf zu machen, wenn nicht Eigennutz, sondern ein edles Motiv sein Handeln bestimmt hat …“
Nun mag die jüngste Generation beruhigt sein, indem sie glaubt, vor einem derartigen Dilemma kraft gesetzlicher Regelung für alle Zeiten geschützt zu sein: Hat sie doch den Eid nicht auf eine Person (bzw. das „Gelöbnis“), sondern die „Bundesrepublik Deutschland“ geschworen! Man stelle sich jedoch vor, dass Teile der Bundeswehr von Machthabern eines sowjetisierten Gesamtdeutschlands oder einer Gruppe des deutschen Volkes übernommen werden, die sich zu Trägern der Staatsgewalt der Republik erklären und dann den Marschbefehl gegen ehemalige Verbündete geben. In Südamerika ist diese Art des Flaggenwechsels dem Militär inzwischen zur Gewohnheit geworden, während man in Deutschland wohl kaum psychologisch darauf vorbereitet ist. Angesichts der Anzettelung von Bürgerkriegen als eine der Vorformen kommunistischer Machtergreifung, liegt diese Möglichkeit durchaus nicht außerhalb eines weiten geschichtlichen Horizonts. Problematisch würde diese Situation bei der Schärfung des Gewissens jedes Soldaten durch die Hypothek des 20. Juli vor allem dadurch, dass die Truppenführer bis zum letzten Schützen nicht mit Sicherheit unterscheiden können, ob die einzelnen Befehle rechtmäßig sind, die zu dieser Situation führen. Die Befehle beziehen sich für den Einzelnen ja nur auf das konkrete Nächstliegende, nämlich zum Beispiel zu einer bestimmten Uhrzeit Einsatzbereitschaft herzustellen, was etwa für den Schützen Maier lediglich bedeutet, sein MG bei der Waffenkammer zu empfangen. Da jeder Soldat die Befehle nicht von Bonn oder einer anderen Zentrale unmittelbar erhält, sondern jeweils vom nächsthöheren Vorgesetzten, besteht für ihn keine Veranlassung, den Befehl für rechtswidrig zu halten, wofür ihm jedoch später einmal der Prozess gemacht werden könnte. Andererseits macht er sich strafbar, falls er den Befehl verweigert, wenn er glaubt, zum Widerstand kraft seines Gewissens aufgerufen zu sein, und sich dabei irrt. Als Modellfall aus der jüngsten Militärgeschichte kann hier die Spaltung der französischen Armee anlässlich der Beendigung des Algerienkrieges dienen, als nicht jeder Soldat sofort einsehen konnte, auf welcher Seite das Recht stand. Der bereits zitierte Gehorsamsparagraph verdeutlicht, was gemeint ist, wenn von einer Überforderung im Kriegsfalle gesprochen wird: „Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist; die irrige Annahme, es handle sich um einen solchen Befehl, befreit nicht von der Verantwortung“ (aus §11, SG). Der Direktor der Bayerischen Verwaltungsschule, Wenzel, hat in seinem mutigen Buch „Zivilcourage im öffentlichen Dienst“ hierzu treffend festgestellt: »„Wenn der Beamte oder Soldat dienstliche Anordnungen für nicht rechtmäßig hält, so kommt er auch in eine Zwangslage, die oft zu einer Kraftprobe mit dem Vorgesetzten wird … Der Streit um die Rechtmäßigkeit des Ungehorsams … geht … noch weitgehend auf das Risiko des Untergebenen … Die Gefahr, dass sich der Vorgesetzte über die Rechtmäßigkeit seiner Anordnungen irrt, wird zwangsläufig … dem Untergebenen aufgebürdet.“8
b. Überforderung im Frieden
Überforderung auf den Gebieten der Erziehung, Ausbildung und Organisation führt unwillentlich zu zwei Tendenzen, die zwar äußerlich und momentan das Gefälle zwischen Forderung der politischen Führung und Erfüllung durch militärischen Leistungsaufwand ausgleichen, auf die Dauer jedoch den Sicherheitsauftrag gefährden: es sind dies die Tendenzen des Rückzugs aus der Verantwortung von oben und der Improvisation von unten!
Die Behandlung des Falles „Nagold“, der mehr zum Fall „Raub“ wurde, zeigte dabei eine Seite des Problems: Die Verletzung des Prinzips der Solidarität schafft eine allgemeine Verlassenheit und Unsicherheit des Untergebenen an exponierter Stelle und eine Angst vor der Verantwortung. Dann wird nach dem Slogan „Nur wo gehobelt wird, fallen Späne“ eben nicht mehr gehandelt, wo gehandelt werden müsste. Solidarität bedeutet nicht Deckung von Dienstpflichtverletzungen, sondern dauernde Aufrechterhaltung der gegebenen Mitverantwortung von Seiten der Vorgesetzten, die nicht in Einzelfällen aussetzen kann, um dann nach Belieben wieder als sanktioniert auftreten zu wollen. Dies gilt um so mehr, wenn das Ausmaß der Dienstvergehen, das hier zu einem Politikum wurde, in einem Missverhältnis zum Verantwortungsbereich des erklärten Hauptschuldigen steht: Weltpresse, Bundesregierung und ein Gefreiter, der Gruppenführer ist, sind keine glaubhaften Relationen. Die Verzerrung der militärischen Verantwortlichkeiten, die sich hier offenbarte, ist um so bedenklicher, als bei der Behandlung des Falles zivilgerichtlich und disziplinarrechtlich – es sei daran erinnert, dass sowohl Bataillonskommandeur als auch Brigadekommandeur ein Disziplinarverfahren gegen sich beantragten – durchaus korrekt verfahren wurde. Es wäre überhaupt eine oberflächliche Betrachtungsweise, die Schuld einzelnen militärischen Personen voll aufzubürden, da hier tiefere Gründe vorliegen, die das gesamte System, dem diese Personen mitverantwortlich angehören, betreffen. Die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung beweisen unter anderem die Konsequenzen, die aus der Erfahrung „Nagold“ gezogen wurden, wie zum Beispiel die verstärkte Vereinheitlichung und damit bessere Kontrollierbarkeit der Unteroffiziersausbildung.
Das eigentliche Problem ist nicht auf Einzelfälle beschränkt, sondern permanent durch die Verlagerung erhöhter Verantwortlichkeit nach unten vorhanden, also durch eine neue inhaltliche Bestimmung des Gehorsams, die in äußerster Anspannung zu den Formen des Befehls steht, die einerseits apodiktisch Erfüllung fordern, andererseits aber inhaltlich keine Orientierung darstellen können. Die vorwiegend als „Allgemeine Richtlinien“ gemeinten Befehle, die Erziehung und Ausbildung betreffen, umfassen zwar als Theorie jeden möglichen Fall, stellen jedoch eine geringe Hilfe für die Praxis dar. So heißt es zum Beispiel in den „Leitsätzen zur Erziehung des Soldaten“: „Entschlossenheit zur Verteidigung, Gehorsam und Pflichtbewusstsein, Tapferkeit und Ritterlichkeit sind die besonderen Ziele der soldatischen Erziehung“ (ZDV 11/1, D, 5). Zur Erreichung dieser Ziele heißt es dann: „Die Wege der Erziehung müssen sinnvoll, einfach und überzeugend sein (D, 22).“ Es sei damit nichts gegen den allgemeinen Tenor dieser Richtlinien gesagt, die sich selbst rechtfertigen wollen: „Für das erzieherische Verhalten können Vorschriften nur Richtlinien geben. Im einzelnen Falle stellt sich die erzieherische Aufgabe immer neu (D, 23).“ Es sei jedoch nochmals mit Nachdruck auf den Spielraum hingewiesen, in dem der Truppenführer auf dem Gebiet der Erziehung und Ausbildung steht. Der hohe abstrakte Gehalt derartiger Bestimmungen wird erst durch die Praxis jeweils nachträglich konkretisiert, so dass oft erst nach einem disziplinaren Verstoß gesagt werden kann, was der Vorgesetzte in diesem Fall zu tun und zu lassen gehabt hätte. Die Auslegungsbreite ist so groß, dass der Vorgesetzte sich unwillkürlich gegen nicht voraussehbare Experimente und Zufälle unter Berufung auf nämliche Richtlinien absichert, während der in der Aktion stehende Untergebene improvisiert und probiert, wobei der Erfolg und Misserfolg sich beliebig ablösen können. Diese allgemeine Unsicherheit ist überhaupt ein gesellschaftliches Phänomen, das sich in jedem Ordnungsgefüge anders darstellt, wobei Bundeswehr und industrieller Großbetrieb in ähnlicher Weise davon betroffen sind. Nicht umsonst ist es ein hoher Offizier, der vorausschauend dieses Phänomen hervorhob: „Es gibt … Zeiten, wo die Gesellschaft formlos und experimentierend die Kontinuität zu verlieren droht. Dann ist es die Aufgabe der denkenden Mitlebenden, auf die tieferen Bedürfnisse der Zeit zu hören und neue Formen zu schaffen, bewährte Formen zu pflegen und den Sinn für die Form wieder zu schärfen.“9 Ein genaueres Studium des Buches von Karst, das für den Autor zur Zeit der Veröffentlichung ein persönliches Risiko darstellte10, ergibt, dass er nicht nur einzelne Formen des militärischen Alltags mitmeint, sondern die Form, in der sich eine moderne Armee in einer bestimmten Gesellschaft, von einem bestimmten Geist geprägt, darstellen sollte. Die Aufgabe überlebter Formen und die Einsetzung neuer Formen betreffen wiederum maßgeblich das Verhältnis von Zivilcourage und Gehorsam.
4. Orientierung an der Sache
a. Zivilcourage von oben und Mitsprache von unten
Die neuen Formen des Gehorsams führen, wie zu zeigen versucht wurde, zu einer Überforderung des Untergebenen, wenn sie nicht ihr Pendant durch eine Ergänzung der Befehlsformen erhalten. Morris Janowitz, Professor an der Universität Chicago, der als der heute bedeutendste Militärsoziologe in Zusammenarbeit mit der US Military Academy eine umfassende Untersuchung anstellte, hebt die Unzulänglichkeit des Prinzips von Befehl und Gehorsam besonders hervor: „Man kann … sagen, dass mit dem Aussterben alter Befehlsformen die wirksame Mitarbeit zum neuen Kriterium für die Beurteilung der militärischen Autorität wird.“11
Da „mehr als fünfzig Prozent … in Heer, Luftwaffe, Marine und bei der Territorialverteidigung … in ihrer Friedensfunktion mehr Techniker als Kämpfer sind“12, ist es nicht unbillig, die Industrie zum Vergleich heranzuziehen. Von Oppen spricht dort von einer „Krise der Hierarchie“, deren Ursachen er in „einer wachsenden Selbstverantwortung“ und“ wachsenden Bedeutung der Horizontalen, der Querverbindungen im Betrieb“ sieht.13 Entsprechend wurde der Führungsstil durch die Konferenzmethode, das betriebliche Vorschlagswesen, Mitspracherecht und die horizontale Koordination von Verantwortungszentren geändert.14 Die Notwendigkeit der horizontalen Koordination neben Subordination wird bei der Bundeswehr – es kann hier nicht von einer Krise gesprochen werden – vor allem an der Schaffung der Brigaden sichtbar, die im Unterschied zur Vergangenheit mit allen Waffen ausgerüstete kleine Verbände darstellen, die in ihrer Gemischtheit und Beweglichkeit nicht mehr unbedingt auf Unterstützung, sondern nur noch Zusammenarbeit angewiesen sind. Eine Befehlsausgabe gegenüber Brigadeführern kann sich somit zwangsläufig nur im besagten Konferenzstil abspielen. Dieses System der gegenseitigen Absprache muss auch proportional zum Verantwortungsumfang des jeweiligen Vorgesetzten auf die untersten Befehlsebenen ausgedehnt werden: Fachgespräch, Austausch von Erfahrungen und Orientierung treten dann nicht nur neben den apodiktischen Befehl, sondern tragen zu dessen Formulierung bei. Diese Notwendigkeit wird zwar bereits in Form etwa der Ausbilder-Besprechungen oder Kompaniechef-Besprechungen praktiziert, hat jedoch im Verhältnis zu seiner Bedeutung noch zu wenig Gewicht. Es scheint zu wenig erprobt zu sein, dass der Vorgesetzte jeder Meinung zu seinem Recht verhelfen soll und er sich trotzdem – gegebenenfalls darüber hinweg! – durchsetzen muss.
Die Gewährung von Mitspracherecht verlangt den Mut, eigene Fehler zu korrigieren und Ratschläge Untergebener anzunehmen. Zeigt der militärische Führer dadurch seine menschliche Größe, so kann er das vermeiden, was ein englischer Generalstabsoffizier und Historiker kritisch darstellt: „Es ist zu befürchten, dass ein Unteroffizier durch angelerntes Wissen zwar nicht offen, aber bewusst seinen Hauptmann zu missachten lernt, und der Hauptmann wieder seinen Oberst, und so aufwärts, bis alle Ranglisten Würde und Wert verlieren. Das wäre Verfall jeden Führertums.“15
Dieser Trend wird noch gefördert, wenn der Vorgesetzte in Benutzung seiner Befugnisse zu reaktionären Maßnahmen greift, indem er das Mitreden des Untergebenen als Anmaßung und Eingriff in seine Befehlsgewalt darstellt. In diesem Sinne sei die Auslegung des Dienstvergehens „uferlos“, wie Wenzel erläutert: „Im öffentlichen Dienst kann jeder Fall aufrechten Verhaltens … ein disziplinarrechtliches bzw. dienstaufsichtliches Nachspiel haben, also auf juristisches Minenfeld führen.“ So könne „in vielen Konfliktsituationen ein couragiertes Auftreten mühelos in ein achtungswidriges Verhalten“16 umgedeutet werden. Wie anders zeigt sich jedoch echtes Führertum, das, wie Fuller fortfährt, nur durch den „Mut zum eigenen Denken … vor diesem ansteckenden Gift“ der Missachtung von unten geschützt werden kann. Dieser Mut vermittelt die geistige Kraft, sich bei einer Vielzahl von Vorschlägen einen Überblick zu verschaffen, diese zu koordinieren und in eine Entscheidung umzuwandeln. Derartiger Führungsweise vertraut sich der wohl auf einem Teilgebiet besserwissende Untergebene gerne an, zumal er das Gefühl hat, dass seine Ratschläge nicht unberücksichtigt bleiben!
b. Die Verbindung neuer und alter Formen
Es scheint sich hier ein Teufelskreis zu schließen: Wie soll der Untergebene sich für Mitspracherecht und sachgerechte Erfüllung seines Verantwortungsbereiches legitimieren, wenn er von oben vorwiegend allgemeine Richtlinien erhält? Bleibt er nicht auf Improvisation angewiesen, wenn er nicht enger an Vorschriften gebunden wird, derer es übrigens auf Teilgebieten – man denke an die Unzahl von Sicherheitsbestimmungen – nicht mangelt? Wird er jedoch an Vorschriften gebunden, so verliert er wiederum seine Urteilsfähigkeit: „Wenn das Gedruckte als ,Heilige Schrift’ gilt, dann ist es über Nachdenken und Beurteilung erhaben. Die Führenden sind vor lästigen Fragen sicher und die Untergebenen, die sich bloß an die Vorschriften zu halten haben, lernen es, dies … mit den geringsten Anforderungen an den Verstand zu tun. ,Wie bequem’, rufen alle innerlich erfreut, ,hier ist ein Buch, das uns das Denken erspart!’ Auf diese Art werden die Gehirne verkalkt – und die Schlachten verloren.“17
Diese radikale Äußerung darf jedoch nicht dazu verführen, die Vorschrift schlechthin abzulehnen. Es ist vielmehr durchaus angebracht, dass auf dem Gebiet der Ausbildung zur Vereinheitlichung und Konsolidierung bewährte Methoden in Handbüchern detailliert erfasst werden. Die Bewältigung dessen, was mit militärischem Handwerk gemeint ist, darf nicht der Improvisation unterliegen. Gerade dadurch, dass dieser Bereich der Routine nicht jeden Tag neu bedacht werden muss, bleibt genügend Kapazität übrig, um die besonderen Probleme zu bewältigen, wie sie Erziehungs- und Gefechtssituationen auferlegen. Es gilt also nicht die Alternative zu erwägen, ob den Vorschriften als Dauerbefehlen oder laufenden Improvisationen als Zeichen von persönlichem Einfallsreichtum und Mut der Vorzug zu geben sei. Beides hat in verschiedener Weise in gegenseitigem Zusammenspiel seine Gültigkeit. Vielmehr gilt es neue Formen zu finden, die im Bereich der Entscheidungsfreiheit an die Seite des Prinzips von Befehl und Gehorsam treten, das sich als nicht ausreichend erweist. Die Losung, die hier vertreten werden soll, lautet: Orientierung an der Sache! Die Sache ist in diesem Falle die Bundeswehr als technische Armee in der heutigen Gesellschaft. Während der Befehls-Gehorsams-Mechanismus ein starres Prinzip darstellt, das sich nur bedingt inhaltlich und schwerfällig auf die geschichtliche Wirklichkeit einstellen kann, bedeutet Orientierung zugleich Anpassung an die wechselnde Gesamtsituation oder Einzelsituation. Nicht umsonst ist es ein Kommandierender General, der zuvor eine führende Position in einem großen deutschen Industrieunternehmen innehatte, den die Strukturveränderung der Bundeswehr zu der Forderung veranlasst, dass neben Befehl Koordination und neben Gehorsam Kooperation zu treten haben.18
c. Koordination und Kooperation durch Information
Dadurch entsteht neben der Belebung der Horizontalen eine zweite Vertikale, die hier mit „Information von oben“ und „Mitsprache von unten“ beschrieben werden soll. Sie findet ihre wirksamste Ausprägung in der Vorausorientierung im Gefecht, die es notwendig machen kann, in Aussparung des Befehlsweges von der oberen zur unteren Führung gleichsam kurzzuschalten. Wenn Rommel von der Luft aus etwa mit einem Schraubenschlüssel beschwerte Zettel mit Informationen für die vordersten Truppenteile abwarf, so war dies eine Vorform dessen, was heute mittels modernster Nachrichtenübertragung zum wirksamen System erhoben werden kann.
Während in der Bundeswehr über den Wert und Unwert der Information überhaupt diskutiert wird und vorerst jede wissenschaftliche Verlautbarung darüber fehlt, zeigt Janowitz, dass in den USA bereits die Unterscheidung zwischen offiziellen und informellen Informationsbewegungen in alle Richtungen in Übung steht. Eine Form der inoffiziellen Verbindungswege ist das „briefing“ (Kurzbesprechung): „Man ist betroffen, in welch hohem Maße die höchsten Ränge des Pentagon auf solche Kurzbesprechungen angewiesen sind, obwohl das Militär im allgemeinen doch größten Wert auf autoritativen Informationsfluss legt.“19 Im Frieden müssen bei dem Tempo der politisch-gesellschaftlichen Veränderungen die zeitlich begrenzten Erziehungs- und Ausbildungsabschnitte, die bereits durch den hohen Anteil der wissenschaftlichen Bildung intensiviert wurden20, durch die Information von Fall zu Fall ergänzt werden, wie es z. B. durch die wöchentliche „politische Information“ versucht wird. Dass sich das Zusammenspiel von Information und Mitsprache jedoch noch nicht voll durchgesetzt hat, zeigt unter anderem die Handhabung der Übermittlung des „Traditionserlasses vom 1. Juli 1965“, der die Truppe völlig unvorbereitet antraf und zu den unterschiedlichsten und zum Teil unerfreulichen Reaktionen führte. Einmal wurde nicht rechtzeitig informiert, während die Öffentlichkeit bereits Monate vorher mit Teilen des Erlasses durch die Zeitungen bekannt gemacht wurde. Dadurch entstanden Missverständnisse und unnötige Diskussionen, denen durch Sachkenntnis derer, die es schließlich anging, hätte begegnet werden müssen. Zum zweiten bedeutete es eine Missachtung des Untergebenen bei der Truppe, in einer so entscheidenden Lebensfrage des Militärs, auf die umfassende Mitwirkung des Bereiches zu verzichten, der ja schließlich vorwiegend diesem Erlass unterworfen wird. Nur durch die zweite Vertikale kann die Kluft zwischen den einzelnen Führungsebenen überwunden werden, die zu der eingangs beschriebenen Überforderung der an der Front militärischer Erziehung und Ausbildung stehenden Offiziere und Unteroffiziere führt! Nur so wird schließlich die Divergenz zwischen Vollmachts- und Funktionsstruktur ausgeglichen!
Die Bundeswehr ist mitgemeint, wenn der Historiker Ritter in dem Soldaten von heute den „Vorkämpfer der Freiheit Europas“ sieht, der „die geschichtliche Tradition mit völlig neuer Zielsetzung aufnehmen“ müsse. Er müsse dazu „besser als jemals vorher ein richtiges Verhältnis von Autorität und Freiheit … finden.“21 Der Akt der Einführung und Durchsetzung neuer Formen zur Verwirklichung dieser Verpflichtung vor der Geschichte erfordert selbst den Mut, den Kennedy bei seiner Nation in der Gegenwart und Fuller bei der militärischen Führung in England vor dem zweiten Weltkrieg vermissten und deutsche Generale, wie Karst und Schnez, bereits durch die Proklamierung von Reformen unter Beweis stellen.22 Es gibt jedoch einen, der diesen Prozess der Reformierung entscheidend hemmt: Es ist dies der „Spießbürger in Uniform“ (analog der „Spießbürger mit Ärmelschonern“, mitunter auch „im Frack“), der sich durch formale Befehlstreue tarnt und durch Mangel an Zivilcourage und Beweglichkeit auszeichnet! An ihn, der so schwierig zu entthronisieren ist, da er überall seine Verbündeten hat, seien vor allem diese Ausführungen gerichtet, deren Fazit vereinfacht ist: Richtig verstandener Gehorsam beinhaltet heute Zivilcourage! Sollte jedoch dieser Appell an die Einsicht nichts nützen, so ist nur zu hoffen, dass Dantes Verheißung in Erfüllung geht, nach der „die heißeste Hölle aller Höllen denen vorbehalten ist, die in Zeiten einer großen moralischen Entscheidungsschlacht sich weigern, Partei zu ergreifen“.
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1 J.F. Kennedy, Zivilcourage, Düsseldorf – Wien 1964, 29.
2 Vgl. ,Die jungen Leutnants der Bundeswehr’ in: ‚Der Stern’, Deutsche Illustrierte, Hrsg. Henry Nannen, 13. März 1966 (H. 11), 25/41.
3 A. v. Janson, Moltke, Berlin 1915, 156.
4 Robert Knauss, Grundsätze der Erziehung und Auslese. In: Veröffentlichung des Instituts für Staatslehre und Politik, e.V., Mainz, Bd. IV: Der Deutsche Soldat in der Armee von morgen, München 1954, 295.
5 Heinz Karst, Das Bild des Soldaten, Boppard 1964, 9.
6 Otto-Heinrich von der Gablentz, Das preußisch-deutsche Offiziercorps. In: Schicksalsfragen der Gegenwart, Hg. Bundesministerium der Verteidigung, Bd. III, Tübingen 1958, 51.
7 Ludwig Beck, Aufruf an die Wehrmacht. In: Gerhard Ritter, Karl Gördeler und die Deutsche Widerstandsbewegung. Stuttgart 1955, 607 f.
8 Alfons Wenzel, Zivilcourage im öffentlichen Dienst, München 1965, 20 f.
9 Karst ebenda, 343.
10 Das Buch wurde erst nach seinem Erfolg vom Bundesministerium der Verteidigung den Truppenbibliotheken anempfohlen, wo es jetzt meist aufliegt.
11 Morris Janowitz, Militär und Gesellschaft, Boppard a. Rhein 1965, 64.
12 Karst, ebenda, 187.
13 Vgl. Dietrich v. Oppen, Das personale Zeitalter. Formen und Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens im 20. Jahrhundert, Stuttgart – Gelnhausen 1960, 134.
14 Vgl. Friedrich Fürstenberg, Grundfragen der Betriebssoziologie, Köln und Opladen 1964, 28.
15 John Frederik Charles Fuller, Generäle von Morgen, Potsdam 1935, 61.
16 Wenzel, ebenda, 20.
17 Fuller, ebenda, 63.
18 Albert Schnez, Ziele und Wege der Erziehung zum modernen Soldaten. Vortrag an der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 25. Mai 1965.
19 Janowitz, ebenda, 145 – auf J. nimmt auch Brigadegeneral Schmückle Bezug: Vgl. Gerd Schmückle, Befehl und Gehorsam genügen nicht mehr. In: FAZ v. 12. Juli 1966, Nr. 158, 11.
20 Vgl. Heinz Gaedcke, „Der Marsch in die Hörsäle. Hochschulausbildung für den Offizier.“ In: Christ und Welt v. 24. September 1965, 6. – Vgl. Peter Eichhorn: Was soll’s – „Gebildeter Offizier?“ In: Truppenpraxis. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung, Heft 1, Januar 1966, 3/5.
21 Gerhard Ritter, zitiert bei Wilhelm Heß, Der Beruf des Offiziers heute. In: Militärseelsorge, Monatszeitschrift, Hg. Kath. Militärbischofsamt, Bonn, Juli 1964, 74.
22 Die Bekanntgabe und Kommentierung der Rücktrittsgesuche der Generale Panitzki und Trettner durch die Publikationsmittel am 22. und 23. August 1966, welche die vorher beendete Konzeption dieser Ausführungen nicht beeinflussten, bestätigen weiterhin die hier aufgezeigte Situation, und zwar bezüglich der Nahtstelle zwischen militärischer und politischer Führung.
Politische Studien. Zweimonatsschrift für Zeitgeschichte und Politik 170 vom November/Dezember 1966, 707 ff.