Flusslandschaft 1949
Ressentiments
Der Unmut über die vielen Flüchtlinge ist weitverbreitet. Ihm einen Ausdruck zu verleihen fällt schwerer als den üblichen Unwillen über die „Saupreußen“ auszudrücken: „Der Kern der Einwoh-
nerschaft scheint auch von jedem Strukturwandel verschont geblieben zu sein. Doch zum Leidwe-
sen der steinzeitlichen Urbayern gibt es nun auch Hunderttausende von Neubayern. Diese sind so zahlreich, dass das überfremdete Volk bereits um seine Muttersprache bangt, weshalb auch nicht länger geduldet werden soll, dass Radio München noch weiterhin als die »Stimme Preußens« fun-
giert. Der Mann jedoch, der mit seiner ihm voranflatternden Starkbierfahne um eine Auskunft ge-
beten wurde, beherrschte die Ursprache unverfälscht. »Woher san’s denn?« fragte er, und auf die Antwort »aus Berlin« hob er seine Stimme in patriotischem Protest: »Wann’s aus Berlin san, was wolln’s dann in München?« Auch der Wohnungseigner, bei dem der spät eingetroffene Gast um Obdach in dem möblierten Zimmer seines Freundes bat, erwies sich als gut antipreußisch bis auf die Knochen. Er knurrte wie ein bissiger Hund und wies den müden Wanderer von der Schwelle: »Wir haben kein Hotel, schaun’s, dass Sie weiterkommen!« 1
Der ehemalige Schwarzmarkt in der Möhlstraße existiert trotz Währungsreform weiter. Displaced Persons, unter ihnen viele Jüdinnen und Juden, versuchen hier in Bretterbuden mit Handel von Waren zu überleben. Immer wieder kommt es zu Razzien. Am 1. Juli besetzen fünfhundert Polizei-
beamte die Möhlstraße. Es kommt zu antisemitischen Ausfällen in der Bevölkerung. Am 9. August erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein antisemitischer Leserbrief. Wenige Tage nach dem Amtsantritt des Hohen Kommissars John McCloy gehen Polizisten am 10. August gegen eine De-
monstration von dreitausend jüdischen Displaced Persons, die gegen den herrschenden Antisemi-
tismus protestieren, in der Möhlstraße vor und ziehen dabei auch ihre Schusswaffen. Ein Beamter gibt mehrere Schüsse ab. Berittene Polizei sprengt in die Menge, Demonstranten verprügeln Poli-
zisten. Zwanzig Polizisten und neun Demonstranten werden verletzt.2 – „Nach 12 Jahren NS-Herrschaft und dem Holocaust steht die Möhlstraße als Zentrum jüdischen Lebens, als Geschäfts-
viertel und als Schwarzmarkt für den Selbstbehauptungswillen der Überlebenden, die sich als Akteure und Akteurinnen mit vielfältige Aktivitäten den notwendigen Raum nahmen und sich gegen versteckten und offenen Antisemitismus zur Wehr setzten.“3
1 Arnold Bauer: „München im Fasching. Von einem Zugereisten“ in Neue Zeitung 18 vom 12. Februar 1949, zit. in: Wilfried F. Schoeller (Hg.), Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der „Neuen Zeitung“, Frankfurt am Main/Wien/Zürich 2005, 332.
2 Siehe „Die Affäre Adolf Bleibtreu“ von Karl Stankiewitz; vgl. die Stellungnahme zu den Demonstrationen in der Neuen Zeitung 113/1949 und MStA 33; vgl. dazu auch „Deutschlands Schmuggler“ im Spiegel 28/1950 und 29/1950: www.spiegel.de/spiegel/print/d-44448927.html und www.spiegel.de/spiegel/print/d-44449003.html.
3 Martin W. Rühlemann: „’Mir zaynen doh’. Die Möhlstraße als Schauplatz jüdischer Proteste“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 38.