Materialien 1959
Selbst denken
In unserem glor- und wortreichen Zeitalter wollen die Herrschaften. die sich in die Propaganda stürzen, nichts von ihr wissen. Sie reden von Aufklärung der Massen, Unterweisung der Wähler und Unterrichtung der Öffentlichkeit. Falls sie den Doktor für Idealismus der sonstige Philosophie gemacht und in der Tasche haben, sprechen sie vom Ringen für Freiheit und Wahrheit, als Doktor aller Rechte vom Kampf für Vernunft und Menschenwürde, sonst über den Lebensstandard und andere fremdländische Koch- und Cocktailrezepte. Alles in allem soll der Eindruck hervorgerufen werden, als ob es keine Propaganda mehr gäbe und jeder ohne Nachhilfestunden denken dürfte. Nur den Startschuss zum selbständigen Urteilen wollen die Propagandisten abgeben und uns über verschiedene Zweifel hinweghelfen, die jeweils an uns nagen.
Wir aber freuen uns der Unabhängigkeit von jedem Zwang und jeder Bevormundung, lesen die Morgenzeitung, die behutsam und auf eine direkt noble Weise auf die richtigen Gedanken, Ge-
sichts-, Stand- und andere nützlichen Punkte im Leben hinweist, ohne auch nur um ein Millimeter von der Bahn des rechtschaffenen, objektiven Ratgebers abzuweichen. Auf diese Weise erfahren wir alles, was uns förderlich und wichtig ist: was wir zu Mittag essen und am Abend lesen sollen, welche Theaterstücke und welche Filme zu empfehlen sind, welche Hüte, Blusen und Hosen die Gentlefrau bzw. der Gentleman tragen, wie man sich zur neuesten Skandalaffäre verhält usw. Daneben wird angedeutet, wen man nächstens ins Stadtparlament oder in den Bundestag wählen müsste, was man von diesem oder jenem Schritt der Regierung zu halten hat und ähnliche Kleinig-
keiten mehr. Es ist gut, dass wir keine Propaganda mehr haben und jemand trotzdem daran ge-
dacht hat, für uns zu denken.
Oskar Angelus
Simplicissimus 16 vom 18. April 1959, 253.