Materialien 1962

Schwabing und die Folgen – Versuch einer Bilanz

Wie sind die „Schwabinger Krawalle“ schließlich in die Münchner und die bundesdeutsche Protest-
geschichte einzuordnen? Der Historiker Stefan Hemler hat festgestellt, dass sich sowohl der Kreis der Teilnehmer/innen als auch die Aktionsformen vom Juni 1962 in Schwabing deutlich von den Studentenunruhen um 1968 unterschieden. Zwar diskutierte die Studentenschaft zwei Jahre lang über die Vorfälle in Schwabing, aber dabei wurden die Erfahrungen rational uminterpretiert. Das für die Ereignisse so typische spontane Aufbegehren und die Emotionalität, etwa beim Provozieren der Polizisten, traten schon bald in den Hintergrund. Was blieb, war die weitgehend einhellige Kritik am Vorgehen der Polizei. Aus dem leidenschaftlichen Ringen um die Leopoldstraße wurde ein nachträglich „gezähmter“ Jugendprotest. Von einem kollektiven „Schlüsselerlebnis“ der „Schwabinger Krawalle“ für die Generation der Studentenbewegung kann demnach keine Rede sein.1 Vielmehr deuten die Zusammenstöße mit der Polizei in der Münchner Leopoldstraße weit stärker auf den Jugendprotest der späten 1950er Jahre hin. Zu betonen sind vor allem jugendkul-
turelle Traditionen, welche die typischen Aktionsmuster der „Halbstarken“ wieder aufleben ließen, freilich in stark „akademisierter“ Form. Ins Rollen gebracht hat die Ereignisse „erst das gemeinsa-
me Aufbegehren der Schwabinger Jugendszene gegen die polizeilichen Einsätze und das sich hieraus ergebende spontane Zusammenspiel von Studenten und ihren nichtstudentischen Alters-
genossen“2. Dennoch lassen sich die Ereignisse in Schwabing als wichtiges Konfliktsignal für die bundesrepublikanischen 1960er Jahre interpretieren. Hier wurde erstmals ein Protestpotential sichtbar, das breitere Schichten der jungen Generation erfasste. Obwohl kein unmittelbarer Vor-
läufer der 1968er Proteste, können die „Schwabinger Krawalle“ somit sehr wohl als einer der Vor-
boten von 1968 bezeichnet werden.3

Noch in einer zweiten Hinsicht markieren die Auseinandersetzungen vom Juni 1962 eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Protests in München. Als Folge der „Schwabinger Krawalle“ bildete sich – maßgeblich beeinflusst vom seit 1963 amtierenden Polizeipräsidenten Manfred Schreiber und von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel – früher als in anderen deutschen Großstädten eine neue polizeiliche Anti-Protest-Strategie heraus.4 Fortan setzte die Stadtpolizei mit ihrer „Münchner Linie“ primär auf Prävention, Flexibilität und selektiven Zugriff, unterstützt durch Polizeipsychologen und technische Neuerungen wie das Abfilmen und Fotografieren jeglichen Protesthandelns. Gekoppelt wurde die „Münchner Linie“ mit einer intensiven Strafverfolgung von Demonstrant/innen durch die Justiz. Schreiber bezweckte durch sein nur scheinbar tolerantes, professionelles Einsatzkonzept, gewaltsame Konfrontationen zwischen Polizei und Protestieren-
den künftig zu vermeiden, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren. Auf diese Weise gelang es der Münchner Polizei nicht nur, mögliche neue „Störungen“ im nach wie vor unruhigen Schwabing frühzeitig zu unterbinden – sie war auch besser eingestellt auf die ab Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Studentenunruhen. Aufgrund ihrer Erfahrungen bei den „Schwabinger Krawallen“ reagierte die Münchner Polizei nicht wie andernorts mit exzessiver Gewalt auf die Aktionen der 68er Studenten, sondern mit einer differenzierten, in der Sache gleichwohl harten Strategie.5

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1 Vgl. Stefan Hemler: „Anstoß für die Studentenbewegung? Warum die ‚Schwabinger
Krawalle’ wenig mit ‚1968’ zu tun haben“ in: Gerhard Fürmetz (Hg.), „Schwabinger
Krawalle“. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006,
151 — 171.

2 Stefan Hemler: „Aufbegehren einer Jugendszene. Protestbeteiligte, Verlauf
und Aktionsmuster bei den ‚Schwabinger Krawallen’, in: Fürmetz (Hg.),
„Schwabinger Krawalle“, a.a.O., 54.

3 A.a.O., 57.

4 Vgl. Michael Sturm: „‚Wildgewordene Obrigkeit’?. Die Rolle der Münchner
Polizei während der ’Schwabinger Krawalle’“, in: Fürmetz (Hg.), „Schwabinger
Krawalle“, a.a.O., 96 — 105.

5 Zum Verhältnis von 68er-Protesten und Polizei in München vgl. Gerhard Fürmetz, Protest oder „Störung“? Studenten
und Staatsmacht in München um 1968. Eine Ausstellung des Staatsarchivs München. München: Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, 1999, 44 — 60; Gerhard Fürmetz: „Die unruhigen 60er Jahre in München: Von den ‚Schwabinger Krawallen’ zu den Studentenprotesten“ in: Martin Sachse-Weinert (Hg.), Only Rock‘n‘Roll? Unser Bild
von den 60er Jahren, München: Bayerischer Schulbuch Verlag, 2011 (im Druck).


Gerhard Fürmetz: „Fünf Protestnächte mit weit reichenden Folgen. Die ‚Schwabinger Krawalle’ vom Juni 1962“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 79.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Militanz