Nützliches

von denen baiern freiwilliger knechtschaft über die jahr

Argula von Grumbach,
geborene Reichsfreiin von Stauff

Weltweit existieren nur drei Länder, deren Regierungspartei länger als ein halbes Jahrhundert die Macht im Staate ausübt: Nordkorea, die Volksrepublik China und der Freistaat Bayern. Da stellt sich die Frage: Was begeistert die Altbaiern so, dass sie sich in geduckter und gedrückter Haltung von einer Obrigkeit fürsorglich leiten, lenken, gängeln, maßregeln und strafen lassen?

Als am Gründonnerstag des Jahres 1527 der Messerschmied Ambrosi Lossenhammer während des Gottesdienstes im Münchner Dom zu Unserer lieben Frau rief „Gott ist nicht im Brot — darum soll man es auch nicht anbeten“, da war das ein lauter Protest, der allerdings sogleich geahndet wurde. Die Henkersknechte folterten den Mann siebenundvierzig Tage, bevor sie ihn enthaupteten.

Er war nicht der einzige, der seinerzeit in München aufbegehrte, und er war nicht der einzige, dem deshalb am Ende das Genick gebrochen wurde. Das Land war ja ursprünglich vielerorts lutherisch, aber „wir werden euch schon katholisch machen — mit Feuer und Schwert“.

Die Schwarzröcke auf der Kanzel und die Ultramontanen in der Politik errichteten nördlich der Alpen eine Bastion des Heiligen Stuhls. Im Vatikan selbst fochten zwei Fraktionen miteinander, Traditionalisten und Modernisierer. Mit welcher dieser Fraktionen sollte man sich verbünden? Im Streit zwischen katholischen und protestantischen Fürsten deutscher Sprache ging es um Ressour-
cen, um fruchtbare Ländereien, um Bündnisse und um Vorherrschaft. Dem Kaiser musste es in erster Linie um Einheit gehen. Und der Vatikan schwankte in seiner Position zum Kaiser zwischen harter Linie und Verhandeln, denn es ging immer auch darum, wer die Vorherrschaft hat: Die sancta ecclesia oder die weltliche Macht. Carl Amery betont pointiert, dass sich der bayrische Her-
zog kühl berechnend dem militanten Katholizismus vermählte, sich „rechts vom Kaiser“ verortete und von da an sein Land Zug um Zug erfolgreich vergrößerte.1

Der politische Katholizismus hielt Einzug in unserem vorher eher unübersichtlichen und unregu-
lierten Land und er baute sich eine Herrschaft auf, die alle noch Unbotmäßigen mit Geschossen und Gebeten, mit salbungsvollen Versprechungen, peinigenden Predigten und frommen Drohun-
gen unter ihre Knute zwang.


„Das Mords Gesindel umb zu rädern pflock er gemeinhin auf die Ert unt werf er ain groß Wagen-
rad Eisen beschlagen auf sein Gliedmaßen, das die Bein zerbrechen wöllen. Den Ketzer arm Sün-
der unt Spitzbuben bindt er umb ihme zu pfählen die weil setz er ihn mit dem Steißloch auf ain nach oben scharff zulaufent Holz, das solcher Art cum deo gratias allgemach in den Leib ein-
dring.“ – Wer nicht spurt, lernt die
instrumenta kennen. Den sexuell aufgeladenen Vergewalti-
gungsphantasien sind dabei keine Grenzen gesetzt. Hier handelt es sich um ein Fragment aus einer Gerichtsordnung aus der Zeit Anfang des 17. Jahrhunderts, Privatsammlung.

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„Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein.“ Diese Motto im christ-
katholischen Staat sang den Grundtenor, der hinter allem mitschwang. So erarbeiteten sich die Eliten arbeitsteilig im Beziehungsgeflecht von Klerus, Adel und Staat die Vorherrschaft und bauten ihre Machtpositionen aus, deren Regelwerke bis heute wirken.

Genauso entstand der Widerwille gegen Wunderglauben und Weihrauch, da wuchs die Wut auf Ornate und Ordensbrüder und Hass schlug den frommen Kuttenbrunzern entgegen. Die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ist auch eine Zeit von Opposition, Aufständen und den darauf entspre-
chenden Antworten der Herren.

Kühn gedacht erscheint das Braunauer Bauernparlament von 1705 ein Vorschein der Französi-
schen Revolution zu sein. Und die Sendlinger Mordweihnacht eine erste Ahnung der Niedermet-
zelung der Pariser Kommune. Um die auf dem Isartor zur Warnung des Pöbels aufgesteckten, ab-
geschnittenen Köpfe der Aufständischen kreisten Schwärme heiser krächzender Krähen und der Jahrmarktschreier ermahnte mit allerhöchster Permission:

„Schaut dann ihr teufflisch Rebellische Sorten // Schaut ihr Untreue / was Ende gewinnt // Wann man Rebellisch bald da und bald dorten // Solche Rebellische Sachen anspinnt. // Deren Anfänger deß Teufels sein List // Selbsten der Erste Urheber mit ist.“2

Erfolgreich übt der politische Katholizismus Gewalt über Herzen und Leiber seiner Untertanen aus. In prächtigen Gebäuden feiert er seinen Triumph. Auf dem Grund von Häusern an der Stadt-
mauer, in denen drei Frauen wohnten, die 1590 in einem Hexenprozess zum Tode verurteilt wur-
den, erhebt sich mehr als siebzig Jahre später die Theatinerkirche.3


Die Theatinerkirche, Lithographie von Gustav Kraus.4

Ihr Landfrieden, nicht der unsere

Mit Beginn der Neuzeit gehörte es zu den zentralen Aufgaben der Landesherrn, im bis dato chaoti-
schen Miteinander den Landfrieden zu sichern. Man erließ Polizeiordnungen und stellt Exekutiv-
kommandos auf. 1682 ließ die Residenzstadt ein „Zucht- und Arbeitshaus“ am heutigen Viktualien-
markt am Anfang der Frauenstraße errichten. Dahin sollten „alle übermüthigen Herren-Diener, schlimmen Ehehalten, liederlichen Handwerksbursche, sträflichen Schulbuben, ungerathenen Kinder, frechen Menscher, langsamen Zimmer- und Maurer-Gesellen, faulen Tagwerker, alle jene welche sich auf Bettel und Müßiggang legen, abgeliefert – zur Besserung angehalten, und nach Umständen mit Eisen und Banden, Karbatschstreichen und geringer Atzung abgestraft werden. Daher ergieng auch an die Hausväter, Bürger und Bauersleute die Aufforderung, alle derlei unge-
horsame, insolente, heillose Personen bei der Zuchthausdirektion zur Ablieferung anzumelden. Denn in Summa gehöre Jeder der Etwas thut was sich nicht gebührt, ins Zuchthaus.“5

Vom fernen Frankreich her tönten die Fanfaren der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Her-
mann Lingg (1820 — 1905), Arzt und Dichter in München, schwärmte noch Jahrzehnte später:

Die Bastille

Auf Trümmer der Bastille
Die Trikolore pflanzt!
Es ist des Volkes Wille,
Hier wird getanzt.

Wie schlug sich’s unerschrocken
In heißer Junigluth,
Beim Heulen aller Glocken
Voll Todesmuth!

Es ruhte nicht, zu stürmen
Das Denkmal seiner Schmach,
Bis dass mit allen Thürmen
Die Zwingburg brach.

Nun flieget, frohe Paare,
Am Grab der Thyrannei,
Tanzt über ihre Bahre,
Die Welt ist frei!

Die Mauer, jedem Pochen
Und jedem Mitleid taub,
Die Mauer ist zerbrochen
Und sank in Staub.

Es war ein Tag der Rache,
Die Kerker stürzten ein.
Tanz, junges Volk, und lache,
Trink froh den Wein!

Kränzt, Mädchen, eure Locken
Mit dunkler Rosenzier,
Nur Jubel und Frohlocken
Erschalle hier!

Auf Trümmer der Bastille
Die Trikolore pflanzt!
Es ist des Volkes Wille,
Hier wird getanzt.6

Allen Gewalten zum Trotz konnte die hohe Obrigkeit der Unbotmäßigen nicht Herr werden. Und so zog sie die Zügel an.

Seit 1804 konnte kein Einwohner ohne ausdrückliche Bewilligung des Landesherrn Bayern ver-
lassen oder gar auswandern. 1824 erhielt die Haupt- und Residenzstadt eine eigene Gendarme-
riekompagnie.

Der königlich-bayerischen Armee Generalquartiermeister von Raglovich meinte am 16. September 1830 zu seinem kunstsinnigen König, nachdem im Juli 1830 die Pariser die Bourbonen verjagt und Belgier, Polen, Italiener, Hessen, Sachsen, Braunschweiger und Hannoveraner revoltierten:

„Das Unruhepotential in der Stadt München liegt nicht in der Nation, nicht beim erprobten braven Bürger, sondern beim arbeitsscheuen Müßiggänger und bei der eigentlichen Canaille, die in keiner Stadt fehlt, und von richtigen Umtrieben leicht hingerissen wird, welche Vorsichtsmaßregeln für Ereignisse rätlich machen. Es handelt sich hiebei um mehrere Tausend Personen. Dazu gehörten rund 3000 ortsfremde Mauerer und Bauhilfsarbeiter, 2000 wandernde Handwerksgesellen ande-
rer Berufssparten, mehrere Hundert heimische Gewerbetreibende in wirtschaftlichen Schwierig-
keiten, einige Hundert junger Müßiggänger, ferner die eigentliche Canaille, also etwa Gassenbuben aller Art und Weiber der niedrigsten Art.“7

Damit gehörte praktisch jeder zehnte Einwohner der damals gut siebenundsiebzigtausend Men-
schen beherbergenden Stadt zum sogenannten Abschaum, wie ihn der Herr Generalquartier-
meister gerne nannte.

1834 wurden die Voraussetzungen für die Ansässigmachung und Verehelichung weiter verschärft … Die Nöte waren groß, nicht nur im gemeinen Volk. Am 16. Mai 1835 sprengte sich Bombardeur Stanislaus Schmitt mit dem Pulverturm auf dem Oberwiesenfeld in die Luft und nahm acht Ka-
meraden mit in den Tod. Er hielt die „unwürdige Behandlung“ durch die Vorgesetzten nicht mehr aus.

Druck erzeugt Gegendruck

Im Rapport des Kriegs- und Innenministeriums an Ludwig I. hieß es am 9. April 1847:

„Wir gestatten uns unterthänigst Ihrer Majestät zu versichern, dass die gültigen Alarminstruktio-
nen nichts zu wünschen übrig lassen. Allerdings mag der Präsenzstand der Garnison auf Dauer erhöht werden. Denn wir äußern im ernsten Hinblicke auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse in und außer den teutschen Staaten die gerechte Besorgniss, dass die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung nicht bloß momentan durch den eintretenden Sommerbiersatz, sondern aus andern, tie-
fer liegenden Gründen noch auf längere Zeitdauer bedroht seyn möchte aus Übervölkerung, aus dem Nothstande der unteren Volksklassen bey der allgemeinen Theuerung des Getreides und der ersten Lebensbedürfnisse und aus der Auftauchung communistischer, die dürftige, untere Volks-
klasse verblendender Ideen.“8

Mit dem Jahr 1848 wehte auch in München ein frischer Wind. Die Aufständischen, denen es nicht nur um Lola Montez ging, erstürmten am 4. März das Zeughaus am St.-Jakobs-Platz (heute Stadt-
museum) und deckten sich mit vorsintflutlichen Waffen ein. Schließlich standen sich am Lenbach- und am Promenadeplatz Militär und Volk in Waffen drohend gegenüber.

In einem zeitgenössischen Flugblatt heißt es:

Die Münchener Freischaar vom 4. März 1848

Was glänzt und funkelt dort im Sonnenlicht?
Sind dies der Vorzeit alte Waffen nicht?
Was soll das rost’ge Zeug am Sonnenglanz?
Ha! Fasching! Richtig! S’ist ein Mummenschanz.

„Nein, Herr! Für Masken ist zu ernst die Zeit,
Die Zukunft kämpft mit der Vergangenheit,
Das Volk will selber sein Messias sein,
Setzt heute für sein Recht das Leben ein.“

„Seht ihr dort auf dem Platz die muth’ge Schaar?
Was kümmert sie die drohende Gefahr?
Zwar ist nicht waffenkundig ihre Hand,
Doch halten sie für Recht und Wahrheit Stand.“

Der Hauptmann schreitet freudig auf und nieder
Und mustert lächelnd ihre Reih’n und Glieder:
He, Tambour, deine Trommel hat ein Loch!
„Ist sie durchlöchert auch, man hört sie doch!“

Du, Fähnrich, mit dem rußigen Gesicht,
Mich dünkt es fast, bist du ein Schlosser nicht?
„Ich bin ein Schlosser, ja, und weiß bestimmt,
Wie man das Schloß vom Mund der Völker nimmt.“

Was willst du, Bursche, mit dem Flammberg, sprich?
Ist nicht das Ritterschwert zu schwer für dich?
„Bei Mühldorf führt’ es einst ein Ritter dreist,
Heut schwingt ein Ritter es vom heil’gen Geist.“

Ha, Partisane hier und Morgenstern!
Die Zeit, die sie geschmiedet, liegt uns fern.
„Und liegt sie auch so ferne als sie mag,
Glänzt erst der Morgenstern, bricht an der Tag.“

Mein Freund, du scheinst zu eilig mir zu seyn,
An deiner Flinte fehlt der Feuerstein.
„Und fehlt an meiner Flinte auch der Stein,
Für’s Recht schlag’ ich dann mit dem Kolben drein.“

Das Haupt empor, du mit dem Lockenhaar,
Des Landsknechts schwerer Helm, er drückt dich gar!
„Herr Hauptmann, nein! Was mir das Haupt erfüllt,_
Ein junges Freiheitslied ist’s, keck und wild.“

Mach’ kein so trüb’ Gesicht, du Graukopf du,
Wer für die Freiheit ficht, schlägt lachend zu.
„Bei Gott! Nicht trüb, nur ernst ist mein Gesicht,
Mein Weib starb gestern, noch vergaß ich’s nicht.“

„Auf meinem Hut der schwarze Trauerflor,
Gleich einer Fahne flatt’re er euch vor,
Er sey für euch ein Freiheitsbanner mehr,
So lang ich lebe trag’ ich’s vor euch her.“

„Für meiner Kinder Zukunft zieh’ ich aus,
Des Deutschen Haus sei auch der Freiheit Haus,
Ich setze kühn mit euch das Leben ein,
Und Recht und Wahrheit soll der Wahlspruch seyn!“9

Ludwig I. dankte am 20. März ab, die Münchnerinnen und Münchner gingen brav nach Hause. Der neue König, Maximilian II., hatte Angst davor, dass ihn das selbe Schicksal treffen könnte wie sei-
nen abgedankten Vater. Er bereitet seine Armee auf den Bürgerkrieg vor.

Oberst Franz Seraphin Hörmann von Hörbach (1789 — 1854) meinte am 24. Juli 1853 zu seinem allergnädigsten König:

„Tumulte seind in 4 Klassen einzutheilen. Als erste und harmloseste gelten die ohne insurrektio-
näre politische Tendenz. Gefährlicher sind politische Tumulte durch demokratische Umtriebe der republikanisch gesinnten Umsturzpartei veranlasst. Die dritte Klasse sind Tumulte communisti-
scher Tendenz. Die gefährlichsten aber sind die durch Theuerung, Misswachs und Hungersnoth veranlasst. Versagt eine staatliche Fürsorge, wird das Volk fürchterliche, grässliche Rache und Volksjustiz an den Urhebern ihres namenlosen Elends auszuüben sich berechtigt glauben … Die nachrichtendienstliche Erforschung der Ursachen von Unzufriedenheit in den Volksklassen, ihrer Vorbereitungen zu Aufständen, der Emissäre und Zuzüge auswärtiger Unruhestifter. — Zweitens. Das uneingeschränkte Recht der lokalen Militärkommandeure, im Bedarfsfall auf eigene Faust das Kriegsrecht und Standrecht verhängen zu dürfen. — Drittens: Aufrüsten, Mannschaften verstärken und Kasernen bauen!“10

So geht’s nicht weiter

Schließlich beginnen die Städte zu wachsen. Agrarkrisen veranlassen eine Landflucht. In den Städ-
ten entsteht Industrie, und die verlangt Arbeitskräfte. Rund um München bilden sich Vorstädte, und die sich neu ansiedelnde Arbeiterbevölkerung beginnt in der neuen Umgebung sich von alten Traditionen zu befreien. Auf dem Dorf herrschen noch Bürgermeister, Pfarrer und Apotheker. Der Dorflehrer bringt nicht das Denken bei, sondern erzieht mit dem Rohrstock. In der Stadt dagegen herrschen neue Voraussetzungen.


Simplizissimus 10 vom 4. Juni 1918, 116.

Die Arbeiter malochen bis zu 16 Stunden am Tag in den „Fabriken“, wie sich oft schon größere Werkstätten mit einem bis mehreren Dutzend Arbeitern nennen, unterwerfen sich der Fabrikdis-
ziplin, erfahren die Arbeitsbedingungen kollektiv und kommen kaum über die Runden. In der wenigen freien Zeit aber, die sie haben, beginnen sie, sich in kleinen Zirkeln darüber auszuspre-
chen, ob die herrschenden Verhältnisse gottgegeben sind und damit nicht veränderbar oder ob es Chancen und Möglichkeiten gibt, aus dem Elend herauszukommen. Sie gründen Lesevereine und bilden Diskussionsgruppen.

Adolf Friedrich Graf von Schack (1815 — 1894), Lyriker und Begründer der Münchner Schack-Galerie, spricht Arbeiterinnen und Arbeiter direkt an und beklagt:

Tauben und Lämmer

Ihr habt, dass es Recht sei auf Erden, gefunden,
Und habt euch doch selbst stets die Augen verbunden,
Ihr klagt, dass die Hirten die Wolle euch rauben,
Dass Wölfe euch fressen, schuldlose Tauben!

Euch mögt ihr die Schuld auf’s Konto schreiben;
Wer zwang euch denn, Schafe und Tauben zu bleiben!
Den Bären mocht’ noch kein Schäfer scheeren,
Und den Löwen kein Wolf lebendig verzehren.11

Wer anfängt zu lesen, der stößt neben Büchern von Darwin, Bakunin, Marx, dem Augsburger Buchbinder Johann Most und anderen auf das Buch von Max Stirner mit dem Titel: „Der Einzige und sein Eigentum“. Da fällt es dann dem Leser wie Schuppen von den Augen, wenn er begreift, dass jegliche gesellschaftlich vermittelte Kategorie historisch gewachsen und somit relativ ist. Letztlich kann nur das Individuum vor sich selbst bestehen. Es ist ausschließlich selbst für die Kategorien verantwortlich, die den Wertmaßstab seines Handelns bestimmen. Und das macht den Hohen Herren Probleme.

Soldaten brauchen ab und zu Feindberührung und die Herrschaft über das eigene Volk reicht nicht aus. Kriege müssen allerdings gewonnen werden. 1870/71 war das voll in Ordnung. Gehen sie ver-
loren, zieht das geschlagene Heer heimwärts und das Volk verliert jeden Respekt.

Für kurze Zeit scheint 1918/19 den Reichen und den Einflussreichen die Macht zu entgleiten, für kurze Zeit erahnen Arbeiterinnen und Arbeiter die Schönheit des aufrechten Gangs und des selbst-
bestimmten Lebens. Mit wesentlicher Unterstützung der sozialdemokratischen Partei können Monarchisten, Protofaschisten, Militärs, Reaktionäre jeder Couleur und auch die katholische Kirche ihre alten Bastionen zurückerobern, indem sie die Räterepublik in einem Meer von Blut ertränken. So einen Ausrutscher wie diese Volksherrschaft darf es nie wieder geben. Das muss in die Köpfe der Bevölkerung hinein: Dass die Revolutionäre Wahnsinnige waren, Verrückte, Bol-
schewiken, Intellektuelle, Juden, Radikale und Schwule. Ein für alle Mal muss klar sein: Ihr dürft euer Schicksal nie wieder selbst in die Hand nehmen. Und weil ihr Gefahr lauft, euer Leben nicht in ordentlichen Bahnen zu begradigen, braucht ihr eine Führung.

Führung gebiert Führer. Für die Eliten im Lande bleibt es allerdings unschön, dass die faschisti-
sche Führung wieder in Vernichtung führt und nicht kalkulierbare Katastrophen auslöst. So kommt es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zu vielfältigen Überlegungen:

Dass die Bevölkerung kuscht, genügt nicht. Wenn die Menschen innerlich anders denken und äußerlich nur so tun, als ob sie mit allem einverstanden sind, besteht immer die Gefahr, dass der Druck zur Konformität nicht ausreicht. Und dieser Druck zur Konformität kostet Zeit und Geld, kostet Energien und hohe Professionalität im Kriegshandwerk. Vielleicht gibt es da eine einfachere, kostengünstigere Lösung für das Problem?

Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie an den gesellschaftlichen Entscheidungen mit beteiligt sind. Sie müssen selbst dafür sorgen, dass sie sich mit dem großen Ganzen identifizieren. Ganz selbstverständlich müssen sie davon überzeugt sein, dass sie der Staat SIND und dass sie von ihm profitieren. Es ist besser, sie regieren sich selber als dass sie regiert werden.

Edward Bernays, ein Mann der Psychologie, meint, „die intelligenten Minderheiten“ müssten „sich kontinuierlich und systematisch der Propaganda bedienen“, weil nur sie „die Bewusstseinsprozesse und sozialen Verhaltensmuster der Massen verstehen“ und „die Fäden ziehen können, mittels derer das Bewusstsein der Öffentlichkeit kontrolliert wird“.12

Und Leo Strauss ergänzt, dass es für die Stabilität einer Gesellschaft nötig sei, dass „den Massen“ ein kollektives Ziel durch die Einführung und Pflege von Mythen vermittelt werde; diese Mythen sollten von einer Elite entwickelt und am Leben erhalten werden. Individualismus sei zu entmu-
tigen, da dieser zur Infragestellung von Mythen führe und die kollektive Verantwortung mindere. Ohne diesen Sinn von dem Zweck des Kollektivs und ihrer Rolle darin entwickelten sonst die Massen Unbehagen zu ihrem Platz in der Hierarchie. Das würde nur die Stabilität einer Gesell-
schaft unnötig vermindern und ihre langfristigen Ziele als Ganzes in Gefahr bringen.13

Es kristallisiert sich eine neue Gesellschaft heraus, in der nicht mehr vormundschaftlich dem thumben Untertan gezeigt wird, wo’s lang geht. Die Untertanen gehen jetzt, begeistert vom frei-
willig akzeptierten Konsens, der nur noch in homöopathischen Dosen hier und dort korrigierend verlautbart wird, in die erwünschte Richtung. Auf deutsch gesagt: Der Staat schafft es immer wieder, den Leuten das zu befehlen, was diese selbst tun wollen.

Das wollen wir ja so

Die Gesellschaft von heute unterscheidet sich von den früheren vor allem darin, dass die direkte außengesteuerte Kontrolle und Disziplinierung von der internalisierten Selbstkontrolle abgelöst wurde. Sozialisation, Indoktrination durch Propaganda und sozialer Ausschluss ergänzen sich heute mit der Entfaltung neuer Profile wie Flexibilität und individuelles Engagement. Die Gestal-
tung der eigenen Existenz erfordert heute ungleich mehr Fähigkeiten als früher, verlangt neue Selbstführungstechniken und damit die Verlagerung des äußeren Zwangs nach innen.

„Diese Demokratie hält die Gewalttaten in Reserve und lässt nur in letzter Instanz und als aller-
letztes Mittel Gewalt anwenden. Sie verlässt sich vielmehr auf die Autorepression in der organi-
sierten Alltäglichkeit. Die Repression wird genau in dem Masse überflüssig, wie die Autorepression (Gruppen und Individuen) diese Arbeit unternimmt. Die Gesellschaft kann verkünden, das Reich der Freiheit sei gekommen, da der Zwang als Spontaneität angesehen wird und die Aneignung weder Sprache noch Konzept hat.“14 und „Die Macht destruiert die Identität eines Subjekts, um ein Subjekt zu produzieren, das die von der Macht gesetzten Schranken als die gewollte Fülle seiner eigenen Möglichkeiten begreift und libidinös besetzt.“15

Solange wirtschaftliche Prosperität ein gesichertes Auskommen zu garantieren scheint, ist alles in Butter. Die Krisen der letzten Jahre lösen neue Verhaltensweisen aus.

Die verunsicherten Menschen bilden aus Angst vor der schnell um sich greifenden Prekarisierung der Lebensverhältnisse ihr Ich aus zu einem konkurrierenden Einzelkämpfer mit Ellenbogenmen-
talität und der ausgeprägten Fähigkeit, nach unten zu treten. Dabei reagiert dieser Untertan ge-
nauso auf Impulse, wie es die moderne Kriegsführung, die in Westpoint gelehrt wird, in ihrer „Shock and Awe-Strategie“ erfolgreich umsetzt: „Es geht darum, die Wahrnehmung und das Ver-
ständnis des Feindes von den Ereignissen zu paralysieren, so dass der Feind unfähig wird, Wider-
stand auf der taktischen und strategischen Ebene zu leisten.“

Was tun?

Eine grundsätzliche Frage ist: Wie erreiche ich einen Menschen, der, je weniger die Arbeit ihre Ar-
beitssubjekte braucht, sich umso stärker an einen wirklichen oder virtuellen Arbeitsplatz klam-
mert, und der langfristig paralysiert dadurch daran gehindert ist, zuzuhören, wenn ihm einer vor-
schlägt, die eigene Selbstführungstechnik zu hinterfragen.

Was außerdem zu bedenken ist: Je wertloser das Individuum sich fühlt, desto mehr sucht es Anleh-
nung an den Erfolg eines ihm äußeren Objekts: zum Beispiel des Markenlogos, der Firma, des Ver-
eins oder der Nation. Die unterdrückende Zwangsverinnerlichung erfordert Ventile, damit sich nicht der Überdruck aufstaut und zu einer destruktiven Implosion führt.

Je unbefangener, je fröhlicher oder leichter dies geschieht, desto bedrohlicher wird die Lage für den, der nicht mitspielt. Alle sollen mitmachen, weil die depravierte Masse ihre Verblödung ahnt und sich von dem, der nicht mitmacht, beobachtet fühlt. Das löst einen schmerzhaften Reflex aus, der nur ruhig zu stellen ist, wenn der störende Abweichler, der Miesepeter, die Spaßbremse, wie er ja auch genannt wird, mitmacht oder nicht mehr existiert. Abweichung vom Konsens, vom stump-
fen, an den Sieg gekoppelten Frohsinn, wird als Sabotage oder Intrige empfunden. Scheinbar ver-
längern sich diese archaisch anmutenden Selbstbewegungen ins Unendliche.

Die Beschreibung der Zustände wäre falsch, wenn sie nicht auch die Gegenbewegungen erkennt. Die Durchsetzung einer homogenen Gesellschaft, die aus Individuen mit ausgefeilten Selbstfüh-
rungstechniken besteht, scheitert am Menschen selbst. Denn Menschen sind auch Bestandteil der Natur, und diese ist, was ich vergnügt feststelle, nicht domestizierbar.

Ein Mensch hat gerade versucht, diese Gedanken aufzuschreiben.
Ich, Argula von Grumbach
27. November 2012


1 Carl Amery, Leb wohl, geliebtes Volk der Bayern, München 1996.

2 Der Bayerische Rebellen Rädelsführer Erste Execution, Lohn und Warnung, 1706, 7.

3 Vgl. Eva Strauß, Hexenverfolgung in München „… dass solch ungewöhnliche Gewitter von den vermaledeiten bösen Weibern gemacht werden“, München 1999, 14 ff.

4 Zwanzig neu aufgenommene bildliche Darstellungen der vorzüglichsten Gebäude, Strassen und öffentlichen Plätze der Königlichen Bayerischen Haupt- und Residenzstadt München. Mit erläuterndem deutschen und französischen Texte von Adolph von Schaden, München 1835.

5 Publicat. de 4. Juny 1682, zit. in: Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung seit den Zeiten Maximilian I. Aus amtlichen Quellen bearbeitet von Max Freiherrn von Freyberg. Zweiter Band, Leipzig 1836, 14.

6 Konrad Beißwanger (Hg.), Stimmen der Freiheit. Blüthenlese der hervorragendsten Schöpfungen unserer Arbeiter- u. Volksdichter, Nürnberg 1901.

7 A IV Bd. 105 Fasz. 1 Prod. 6, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Abt. IV Kriegsarchiv.

8 A IV Bd. 105 Fasz. 2 Prod. 7, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Abt. IV Kriegsarchiv.

9 Flugblattsammlung der Monacensia F.Mon.2029.

10 C-7, II. Teil, S. 21, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Abt. IV Kriegsarchiv.

11 Beißwanger (Hg.), a.a.O.

12 http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Bernays.

13 http://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Strauss.

14 Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt am Main 1972, 202.

15 Heinz Brüggemann, Strategien innerer Kolonisation, in: Heinz Brüggemann/Heide Gerstenberger u.a.: Über den Mangel an politischer Kultur in Deutschland, Berlin 1978, 51.

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