Materialien 2007
Es herrscht Ruhe im Land
Zum 3. Mai, dem „Tag der Presse- und Meinungsfreiheit“
Unsere Welt ist zu leise. Warum zögern immer mehr Menschen Krach zu schlagen, zu Lärmen, auf die Pauke zu hauen, notfalls zu schreien? Alles sehnt sich nach Gemütlichkeit, Rückzug vor dem Krach da draußen in der Welt. „Ruhe, Stille, Sofa und eine Tasse Tee geht über alles“ (Theodor Fontane). Gelobt wird das Kind, wenn es „still ist.“ Getadelt wird es, wenn es lärmt. Musik zum Meditieren und ‚relaxen’ steht ganz oben auf den Listen der meistverkauften CDs. Stille ist ‚in’. Lärm ist ‚out’. Schlagbäume gibt es nicht mehr an unseren europäischen Grenzen. Dafür scheinen unsere Länder immer mehr Hotelzimmern zu ähneln, an deren Türen jene kleinen Papierschilder angebracht sind, die vor dem Eintritt warnen: „Bitte nicht stören“.
In seiner großen Reportage über den historischen „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und Salvador im Jahre 1969 unterbricht der vor kurzem verstorbene polnische Journalist Ryszard Kapuściński an einer Stelle seine Chronik. „Es wird höchste Zeit“, schreibt Kapuściński scheinbar vollkommen unvermittelt in seiner Reportage, „der Stille mehr Beachtung zu schenken … Die Geschichtenschreiber schenken den so genannten lauten Momenten zu viel Aufmerksamkeit, während sie Perioden der Stille vernachlässigen“. Wie bitte, — der Stille? In einer Zeit, in der sich die Zahl der Fernsehprogramme fast täglich erhöht, Politiker während der Pressekonferenzen kaum noch hinter einem Wald von Mikrophonen zu erkennen sind, Reporter von einem schrillen Event zum anderen rasen, wo nur noch der gehört wird, dessen Lautsprecher alles und alle anderen übertönen, soll man sich als Produzent wie als Konsument medialer Botschaften mehr der Stille widmen? „Die Stille ist ein Vorbote des Unheils, oft sogar des Verbrechens. Sie ist ebenso ein politisches Instrument wie das Klirren der Waffen oder die Rhetorik auf einer Versammlung. Tyrannen und Okkupanten, die darauf bedacht sind, dass Schweigen ihr Werk umhüllt, brauchen diese Stille … Welche Stille alle Länder mit überfüllten Gefängnissen atmen! Die Stille hat ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse. Es ist ein Gebot der Stille, Konzentrationslager in menschenleeren Gegenden zu errichten. Die Stille verlangt einen großen Polizeiapparat. Sie verlangt ein Heer von Spitzeln. Die Stille fordert, dass Feinde der Stille plötzlich und spurlos verschwinden. Stille, klärt uns der weit gereiste Kapuściński weiter auf, sei überall auf der Welt am häufigsten verbunden mit Worten wie Friedhof, Schlachtfeld, Verlies … Wo gefoltert wird, achten die Schergen zuerst immer auf schalldichte Räume. „Die Stille hätte es gerne, dass ihre Ruhe durch keine Stimme — der Klage des Protests, der Empörung – gestört wird. Wo eine solche Stimme erklingt, schlägt die Stille erbarmungslos zu und stellt die ursprüngliche Ordnung wieder her — das heißt den Zustand der Stille.“ Wer sich gegen den Lärm wehrt, will seine Nerven schonen, will endlich seine Ruhe haben. Warum nicht?! Es gibt kein Menschenrecht auf Stille, aber vielleicht ein Menschenbedürfnis. Doch zu viel Stille ist auch verdächtig, lässt böses ahnen. Eltern wissen, dass die Stille im Kinderzimmer nicht nur Gutes verheißt. „Sie eilen hin, um einzuschreiten, denn sie spüren, dass Böses in der Luft liegt“ (Kapuściński).
Warum hören und lesen wir derzeit so wenig von Haiti, Burundi, Birma, Guatemala, Zimbabwe, Usbekistan oder Bangladesh? Es herrscht Stille in diesen Ländern. Den Jahresberichten von ‚amnesty international’, den „Reportern ohne Grenzen“ oder „Human Rights Watch“ kann man entnehmen, warum. Es gibt aber auch weniger spektakuläre „stille“ Fälle, von denen man nichts hört. Zum Beispiel die peruanische Journalistin Marilu Gambini, die zusammen mit ihrer Tochter untertauchen muss, weil ihr mehrere Todesdrohungen zugegangen sind. Sie hat im Fernsehen ein Schweigekartell zwischen Politikern und Drogenbossen in ihrem Land angeklagt. Oder Jean Bosco Gasasira aus Ruanda, der es gewagt hat, über Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung zu recherchieren. Er wurde zusammengeschlagen und musste lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Oder der äthiopische Journalist Zelalem Gebre. Zelalem, der nach Nairobi/Kenia fliehen musste, um einer drohenden Todesstrafe als „Vaterlandsverräter“ zu entgehen, weil er als Chefredakteur einer oppositionellen Tageszeitung die Militärpolitik seiner Regierung kritisiert hat.
Am 3.Mai, den die UN seit einigen Jahren als „Tag der Pressefreiheit“ deklariert, wird vielleicht für 24 Stunden an jene Länder erinnert, in denen das für uns in Europa selbstverständliche Menschenrecht freier Meinungsäußerung nicht, noch nicht oder nicht mehr existiert. Einige laute Worte werden — vielleicht — an diesem Tag zu hören sein. Die diversen Vereinigungen zum Schutz der Menschenrechte werden Presseerklärungen an die Redaktionen, an die Staatskanzleien und die Parlamente verschicken. Dann aber, einen Tag später, können wir wieder in Ruhe unseren Tee am Sofa genießen. „Stille wie des Todes Schweigen, liegt überm ganzen Hause schwer“ (Schiller)
Carl Wilhelm Macke