Materialien 2010
Aus der Schusslinie
„Nur wir Journalisten selbst können etwas ändern. Und dafür müssen wir ehrlich arbeiten. Wenn nur einer die Wahrheit schreibt, kann er getötet werden. Wenn aber Tausende das tun, dann nicht. Man kann nicht alle Journalisten vernichten.“
Jedes Mal wenn wir von dem Verein „Journalisten helfen Journalisten“ eine Nachricht von der Ermordung, der Misshandlung, der Verhaftung von Journalisten, von gegen ihnen ausgesprochenen Todesdrohungen, von ihren Gefängnisaufenthalten erfahren, erinnern wir uns an diese trotzig-ermutigenden Sätze der russischen Journalistin Olga Kitowa angesichts des Todes ihrer Kollegin und Freundin Anna Politkowskaja.
„Man kann nicht alle Journalisten vernichten“ — man kann aber auch nicht allen Journalisten helfen, von deren oft existenzieller Not man erfährt. „Mit einem Löffel kann man das Meer nicht ausschöpfen“, schrieb uns einmal der während der Milosevic-Jahre im Exil lebende serbische Schriftsteller und Journalist Dragan Velikic. „Aber auch das, was man geschöpft hat, ist das Meer. Es wird auf dieser Welt immer Ungerechtigkeiten und Verbrechen geben, aber es ist sehr wichtig, dass die Hand, die mit dem Löffel versucht, das Meer auszuschöpfen, nicht aufgibt.“
Die Hoffnung von Olga Kitowa und die Aufforderung von Dragan Velikic sind wichtige moralische — und wenn man will, auch berufsethische — Orientierungen bei einer Arbeit, die im Alltag aber sehr viel nüchterner, pragmatischer, selbstverständlicher abläuft. Man muss Hilfsgelder sammeln und auf vertrauensvollen Wegen weiterleiten, solidarische Netze knüpfen, die Öffentlichkeit über die Dramatik einzelner Notfälle informieren, wenn man das Menschenrecht auf Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gegen alle Angriffe und wo auch immer verteidigen will
Seit der Gründung des Vereins „Journalisten helfen Journalisten“ im Jahr 1993 war uns der „Bayerische Journalistenverband“ immer ein treuer, vielleicht sogar der treueste Partner. Und wenn es einmal um die Unterstützung für besonders aufwendige Hilfsaktionen ging, gehörte Frauke Ancker immer zu den ersten und wichtigsten Ansprechpartnern. Für diese solidarische Kooperation möchte sich JhJ an diesem Abend auch einmal in aller Öffentlichkeit bedanken.
Die von ihr aufgebaute und stabilisierte Zusammenarbeit von JhJ und dem BJV wird — leider — auch weiterhin wichtig sein. Ein aktuelles Beispiel soll hier für viele stehen:
In diesen Tagen erhielten wir ein längeres Schreiben, mit dem sich ein mexikanischer Kollege bei seinen Freundinnen und Freunden bedankt hat, die ihm geholfen haben, sich durch ein Stipendium in Deutschland wenigstens für ein Jahr aus der Schusslinie bei seiner Arbeit in Mexiko zu entfernen. Und das ist hier sogar sehr wörtlich zu verstehen, da Mexiko für Journalisten zu den weltweit gefährlichsten Ländern gehört.
„Ich kam“, heißt es an einer Stelle des Dankesschreibens, „mit einem zerbrochenen Herzen und einem schmerzenden Körper wegen der Entführung, die ich durchgemacht hatte. Die Wunden werden nie verschwinden, aber Ihr seid mir wie ein Balsam gewesen, der die Vernarbung ermöglicht hat.“
Wer hier bei uns den Beruf des Journalisten ausübt, muss — einem funktionierenden Rechtsstaat sei Dank — nicht unter den dramatischen Umständen in anderen Kriegsregionen und Krisenregionen arbeiten, von denen ein Verein wie JhJ fast täglich erfährt. Aber gerade deshalb hätten wir ja auch alle Hände frei, um mit dem Löffel etwas mehr aus dem Meer zu schöpfen, das in anderen Weltecken vielen Kolleginnen und Kollegen bis zum Halse steht, und Balsam zu geben, der es vielleicht ermöglicht, Verwundungen nach Entführungen und Verfolgungen langsam heilen zu lassen.
„Nur wir Journalisten selbst können etwas ändern.“
Carl Wilhelm Macke
Rede anlässlich der Verabschiedung von Frauke Ancker in den Ruhestand, München, 26.7.2010