Materialien 1972

Arbeitersache

Der eindeutige Höhepunkt der studentischen Betriebs- und Wohnheimagitation waren die Organisation und Durchführung einer Streikaktion im Mai 1972 bei BMW in München. Italienische Arbeiter waren nach einer einjährigen Ausbildung an der Facharbeiterschule in Pisa von BMW mit dem Versprechen eingestellt worden, sie würden nach der Probezeit eine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit zugewiesen bekommen und zudem dementsprechend höher entlohnt werden. Als dieses Versprechen nicht eingelöst wurde und die Arbeiter mit ihrer Unterbringung in Mehrbettzimmern im betriebseigenen Wohnheim immer unzufriedener wurden, bildete sich eine selbstständige Basisgruppe von italienischen Arbeitern, die von Anfang an starke Verbindungen zum Münchner Ableger von Lotta Continua und der Gruppe Arbeitersache hatte.

Nachdem weder Gewerkschaft und Betriebsrat noch die Betriebsleitung auf ein von den italienischen Arbeitern gestelltes Ultimatum mit der Forderung nach adäquaten Arbeitsplätzen reagiert hatten, zogen mehrere italienische Arbeiter durch das Werk und riefen die Belegschaft zum Streik auf. Vor den Toren hatten Aktivist/innen von Lotta Continua und der Gruppe Arbeitersache Flugblätter mit einem Streikaufruf verteilt. Das Ultimatum der Arbeiter hätte an sich über Flugblätter im Betrieb verbreitet werden sollen. Allerdings schien bis zur Streikaktion kaum jemand bei BMW von diesem Ultimatum und seinen Hintergründen gewusst zu haben. Die Aktion löste große Unruhe im Betrieb aus. Tatsächlich standen für etwa 20 Minuten die Bänder in den Produktionshallen still, und während des Schichtwechsels kam es zu einer Versammlung von ca. 2.000 Beschäftigten auf dem Werkshof. Sie wollten erfahren, was im Betrieb vor sich gehe. Nachdem der Betriebsrat die Belegschaft mehrere Male zur Wiederaufnahme der Arbeit aufgefordert hatte, löste sich die Versammlung auf. Die meisten der am Streik direkt beteiligten Arbeiter wurden mit Zustimmung des Betriebsrats wegen „Störung des Betriebsfriedens“ fristlos entlassen.

Mit Teach-ins und multinationalen Versammlungen im Hofbräukeller am Wiener Platz und in Wohnheimen versuchte die Arbeitersache, den Streik wieder aufflammen zu lassen. Während es nur vereinzelt zu Solidaritätsbekundungen von anderen Arbeiter/innen kam, schafften es die Aktivist/innen der Gruppe Arbeitersache, die mit den Entlassungen einhergehenden Rauswürfe aus dem Betriebswohnheim zu skandalisieren und rückgängig zu machen. Es gab mehrere Versammlungen von Streikenden und Student/innen vor den Betriebstoren von BMW, wobei es zu Handgreiflichkeiten mit dem Werkschutz kam. Betriebsrat und IG Metall reagierten mit Unverständnis auf die Forderungen und die Streikaktion der Italiener. Zum einen seien die Streikenden nicht Gewerkschaftsmitglieder, deswegen habe die IG Metall deren Interessen auch nicht zu vertreten. Zum anderen teile die Gewerkschaft die Einschätzung der Betriebsleitung, dass es sich bei der Aktion um eine reine Provokation gehandelt habe, die von Mailand aus gesteuert worden sei.1 Die italienischen Arbeiter antworteten darauf mit einer Erklärung: „Auf unsere berechtigten Forderungen hat man mit den repressiven Maßnahmen von Werkschutz und Polizei reagiert. Wir sollen diffamiert und isoliert werden. Wir rufen dazu auf […], den wahren Ablauf der Begebenheiten und unsere Situation zu klären.“2

Tatsächlich erhielten die Arbeiter die Möglichkeit, im italienischen Konsulat vorzusprechen, und im italienischen Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks kamen am Streik beteiligte Italiener zu Wort. An der fristlosen Kündigung und dem damit verbundenen Entzug der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung für 28 BMW-Arbeiter änderte dies aber nichts mehr.

„Wir sind alle Fremdarbeiter“3

Für die multinationale Betriebsarbeit der Gruppe Arbeitersache bedeutete der Ausgang des Streiks einen herben Rückschlag. Kaum noch jemand hatte Vertrauen in die Wirkung der von dieser Gruppe vorgeschlagenen Aktionen. Die Diskussionen über den Streik führten zu einem zeitweiligen Stillstand der Aktivitäten der Gruppe. Die Zusammenarbeit mit Lotta Continua allerdings wurde als bereichernd eingeschätzt. „Zum Beispiel, dass Politik heißt, den Lebenszusammenhang einzubeziehen; dass man mit den Arbeitern leben, feiern, singen und nicht nur diskutieren kann.“4

Das enorme Repertoire an Protestliedern, das die Migrant/innen aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, war zudem für die Gruppe Arbeitersache ein entscheidender Ansporn, um deutsche Protestlieder zu schreiben, die sich im Gegensatz zu den alten Arbeitermärschen an der aktuellen Popmusik orientierten. Auf der ersten Schallplatte des Münchner Trikont-Verlags befassten sich beispielsweise zwei Lieder ausschließlich mit der Situation der Migrant/innen und dem Streik bei BMW. „Ans Fließband, ans Fließband, die Bosse ans Fließband gestellt!“ — singt Albino, selbst Aktivist bei Lotta Continua und BMW-Bandarbeiter in dem Lied „Wir sind alle Fremdarbeiter“. Laut im Chor und voller Zukunftsgewissheit tönt es dagegen im rhythmischen Blues „Bei BMW wird gestreikt“ — „Wir waren zwar wenige, doch den Geldsäcken haben wir, was sie so erwartet, mal gezeigt“.5

Simon Goeke

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1 Vgl. Betriebsversammlung bei BMW München am 7. August 1972 u. Mitteilungen des Betriebsrats. BMW-Archiv: BMW UA 1532/1; 1243/1.

2 Erklärung der italienischen Arbeiter zum BMW-Streik 1972 (Hervorhebungen im Original), DOMiD-Archiv Köln E638,5.

3 Der Begriff des „Fremdarbeiters“ stammt aus der NS-Zeit. Die linken Aktivist/innen bezogen sich absichtlich darauf, um zu verdeutlichen, dass sie keinen Unterschied zwischen ausländischen und deutschen Arbeiter/innen machten. Beide seien im Arbeitsprozess gleichermaßen von den Produkten entfremdet. In einem Kommentar zu einem Lied mit gleichnamigen Titel heißt es: „Wir sind alle Fremdarbeiter. Das ist eine Parole vom 1. Mai 1971. Sie soll ausdrücken, daß vor dem Kapitalisten kein Unterschied zwischen Ausländern und Deutschen besteht, daß beiden die Arbeit fremdbestimmt und ausbeuterisch erscheinen. [sic!]“ (LP der Gruppe Arbeitersache — „Wir befreien uns selbst“) Die Parole „Wir sind alle Fremdarbeiter“ spielt wahrscheinlich auch auf die Solidarisierung französischer Student/innen mit dem ausgewiesenen Daniel Cohn-Bendit an. Bei den Demonstrationen wurde gerufen: „Wir sind alle deutsche Juden“. Ein weiterer historischer Bezug ist die Losung: „siamo tutti operai“ (Wir sind alle Arbeiter), die aus den sozialen Kämpfen jener Zeit in Italien stammt.

4 Gruppe Arbeitersache: Was wir brauchen müssen wir uns nehmen, S. 58.

5 Wir befreien uns selbst. Kampflieder der Gruppe Arbeitersache. LP, München: Trikont-Verlag, 1972.


Simon Goeke: „‚Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand’ — Von protestierenden Gästen und multinationalen Revolutionär/innen“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 122 f.