Materialien 1963

Rehalitäten

„Sieh dir das einmal an", sagte der Rehbock Waldemar zu seiner Frau Amalie, die hinter ihm auf der Waldwiese äste, „dieser vollgestopfte Zug …“

Amalie hob nur kurz den Kopf, um auf die Bahngleise hinunterzublicken, wo eben der Zug mit den Ausflüglern in die Stadt zurückfuhr und wo die Menschen, die an den Fenstern saßen, aufgeregt ihren Bekannten zuriefen: „Rehe, da sind Rehe! Seht doch mal, Rehe …“ – dann äste sie wortlos weiter.

„Hast du das gesehen, Amalie“, sagte Waldemar „wie Vieh sind die Menschen zusammengepfercht. Da lob ich mir doch unsere Freiheit“ – er blickte schwärmerisch in die Runde – „so allein mit sei-
nen Lieben auf einer einsamen Waldwiese. Und diese Ruhe, dieser Frieden, diese Stille, die frische Luft dazu! Nur wir leben noch im erholsamen Lärmschatten!“

„So ein Quatsch“, fuhr ihn Amalie an, „hast du den letzten Winter schon wieder vergessen? Als wir bis zum Bauch im Schnee standen und nichts zu fressen hatten? Wer hat denn da am meisten ge-
jammert? Du! Und jetzt schwärmst du schon wieder von Waldesfrieden, Stille und Freiheit. Wenn ich das schon höre …“

„Ich finde, so unrecht hat er nicht“, sagte Amalies Schwester Agathe, die für Waldemar schon immer eine Schwäche hatte und ihn mit ihren sanften Rehaugen anhimmelte. „Wir sind wirklich frei und ungebunden und können gehen, wohin wir wollen. Überall finden wir unser Auskommen.“

„Außer im Winter“, sagte Amalie giftig und rupfte nervös an einem Löwenzahn herum.

„Ja, außer im Winter“, sagte Waldemar, „aber man muss eben auch für die Freiheit einen Preis bezahlen.“ Er hob sein edles Haupt hoch in die stille Abendluft. Agathe sah bewundernd zu ihm empor.

„Freiheit!“ rief jemand höhnisch hinter ihnen. Aus dem Wald trat ein magerer Hirsch mit rötlich schimmerndem Fell. „Freiheit? Dass ich nicht lache!“

„Eure Freiheit, meine Freunde, ist doch nur eine Illusion“, sagte der Hirsch. „Ihr seid genau gezählt und registriert, sogar eure Kinderchen stehen schon im großen Buch des Jägers, und wenn es ihm passt, setzt er euch auf die Abschussliste. Dann macht es eines Tages ,peng’, einmal, zweimal, drei-
mal: peng, peng, peng … und aus ist es mit der Freiheit. Einmal kommt jeder dran, das ist die Wahrheit.“ – „Hör nicht auf ihn, Waldemar“, rief Amalie empört, „er weiß ja nicht, was er redet. Er ist betrunken.“

Der Hirsch war ein Individualist: statt sich ausschließlich um seine Sippe zu kümmern, pirschte er sich an den Jäger seines Reviers und lauschte der Unterhaltung, die er mit seinen Jagdgästen führ-
te. So erfuhr er, was es mit der Freiheit auf sich hatte.

Waldemar gab sich den Ausdruck überlegener Würde. „Lass ihn doch“, sagte er mit gekünstelter Milde, „seine lästerlichen Reden können mich in meinem Glauben nicht erschüttern. Er ist von den neuen Ideen infiziert, die sich nun auch in unserem Wald auszubreiten beginnen. Aber diese nihili-
stischen Ansichten werden von unserem gesunden Rehempfinden wie Gift ausgeschieden werden.“

„Ich glaube, er ist ein Linksintellektueller“, sagte Agathe, und ihre sanften Rehaugen füllten sich mit Tränen. „Ach, und der Abend war doch so schön gewesen", schluchzte sie.

„Mein Herr“, wandte sich der Rehbock Waldemar mit beschwörender Stimme an den fremden Hirsch. „Sie sehen selbst, was Sie mit ihren verkehrten Ansichten für Unheil anrichten. Sie sind in unseren Abendfrieden eingebrochen und Sie wollen uns den Glauben an die Freiheit des Rehs nehmen. Schämen Sie sich nicht?"

„Na schön“, sagte der Hirsch, „deine Ruhe will ich nicht mehr stören, aber deine hochtrabenden Phrasen gehen mir allmählich auf die Nerven. Schließlich bist du ja der erste, der auf den Knien zur Futterkrippe rutscht, die der Förster mit Heu füllt, damit ihr nicht verreckt.“

„Das ist unerhört“, schrie der Rehbock Waldemar empört, „das ist eine Beleidigung, Sie Defätist, Sie vaterlandsloser Geselle, man sollte Sie einsperren, Sie zersetzen die Moral der Gesellschaft mit ihren Ansichten …“

„Reg dich nicht auf, Waldemar“, sagte Amalie besorgt, „denk an dein angegriffenes Herz, du bist ja nicht mehr der Jüngste.“

„Ja, du hast recht“, sagte Waldemar, „man sollte sich nicht so aufregen. Aber diese neuen Ideen sind wie ein Gift. Man muss ihnen entgegentreten, ehe es zu spät ist." Er hob sein stolzes Haupt empor, und Agathe sah verzückt zu ihm auf. „Frieden“, flüsterte er, „Freiheit“.

In diesem Augenblick fiel vom Waldrand her ein Schuss. Waldemar sank getroffen auf die Vorder-
läufe, legte sich langsam auf die Seite, streckte alle Viere von sich und hauchte sein Leben aus. Die andern sprangen in langen Sätzen davon.

„Er war schon lange dran, der alte Bursche“, sagte der Jagdpächter zu seinem Gast, als sie auf die Wiese hinaustraten, „noch nie stand er so günstig in Schussposition wie heute.“

Siegfried Grundmann


Simplicissimus 42 vom 19. Oktober 1963, 660 f.

Überraschung

Jahr: 1963
Bereich: Medien