Flusslandschaft 1967

StudentInnen

„Schnellinformation – Zehn Thesen von Prof. Müller-Seidel: 1. Von einem Genetiker sei nicht mehr politischer Verstand zu verlangen als von einer Milchfrau, hat der Kölner Soziologe Erwin Scheuch in einer Diskussion mit Berliner Studentenvertretern gesagt. Der Auffassung – und mit ihr der These von der völlig wertfreien Wissenschaft – wird mit Entschiedenheit widersprochen. 2. An einer Universität befindet sich das Kritische in einem Kontinuum seiner selbst – auch insofern, als es sich gegen die eigenen Positionen richten kann, in denen man sich noch eben sicher fühlte. Kri-
tische Wissenschaft stellt möglicherweise Morgen in Frage, was heute gelehrt wird. In der allseiti-
gen Kritik beruht unter anderem ein Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Das Engage-
ment dessen, der Wissenschaft treibt, wird damit nicht unmöglich gemacht, aber beträchtlich kompliziert … Die Diskussion mit Professor Müller-Seidel über diese Thesen, in denen er die wich-
tigsten Teile seiner Vorlesung zusammenfasst, findet am Montag, 22.1.67, 19 Uhr, im Hörsaal 201 (HG) statt. Wir laden dazu alle Professoren, Assistenten und Studenten ein. Germanistische Fach-
schaft. Holger Ambrosius“1

Am 13. Juni ruft die medizinische Fachschaft zum Streik gegen die Verzögerung des Klinikprojekts Großhadern.2 Am 16. Juni demonstrieren Studenten für Großhadern.3

Am 30. Juni kommt es zu einer Demonstration gegen den „Ausbildungsnotstand an den Hoch-
schulen“.4 Diese sind zu Massenuniversitäten geworden, in denen das seit Humboldt propagierte Ideal der „Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre“ arg strapaziert wird. Zwar sind die Hochschulen formal autonom und damit „frei“, andererseits sind sie indirekt abhängig von politi-
schen Implikationen und hierarchischen Verfestigungen. In der Binnenarchitektur der Hochschule entscheiden personalpolitische Stützpfeilersysteme, die sich in jahrhundertealten Ritualen reprä-
sentieren und damit dem aktuellen Modernisierungsstau sichtbar Ausdruck verleihen. Die alten Ordinarien verteidigen naturgemäß „ihre“ akademische Freiheit. Die neue Generation der Studie-
renden will „alte Zöpfe“ abschneiden, fordert Mitbestimmung bei der Gestaltung von Forschung und Lehre und paritätische Repräsentation in den Gremien.

Am 7. Juli findet eine AStA-Veranstaltung unter dem Motto „Ohne Maß — bis an die Memel“ statt. Zu sehen ist Theater, ein Polit-Musical und Kabarett mit Hans Clarin.

Das neu gebaute Studentenwerk wird im Juli des Studierenden von Staatssekretär Lauerbach, ehemals aktiv in der Waffen-SS, feierlich übergeben. Hierbei verletzt Rolf Pohle ein Tabu.5

Beim Gewerkschaftlichen Arbeitskreis der Studenten (GASt) ist auch Hanna Schygulla bis zum Sommersemester 1968 aktiv.

„Schnellinformation der germanistischen Fachschaft. Die auf dem teach-in vom 13.12.67 konstitu-
ierte Kommission schlägt der Vollversammlung vor, folgenden Antrag zu stellen: I. Die Vollver-
sammlung beantragt die Einrichtung einer aus drei habilitierten Lehrkräften, 3 Vertretern des Mittelbaus und 3 Studenten bestehenden Kommission. Diese Kommission hat die Aufgabe, zu allen Fragen, die das germanistische Studium und die germanistischen Seminare betreffen, Emp-
fehlungen auszuarbeiten …“6

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Beim Teach-In der GermanistInnen erscheinen nur ein Odinarius, 20 Assistenten und wenige Studierende. Professor Kuhn geht sofort in die Offensive: Das Einladungsflugblatt habe provoziert. Er „bezog pauschale Vorwürfe (z.B. Beitrag der Germanistik zur Naziideologie als Beweis einer politisch relevanten Germanisik) auf sich persönlich, verwahrte sich gegen diese Provokation und erschwerte mit seinen Einwänden eine sachliche Diskussion über den Inhalt der Behauptungen, die das Flugblatt aufgestellt hatte …“ Fachschaftssprecherin Inga Kühl: „Wenn ein Flugblatt das phlegmatische Desinteresse einer Masse von Studenten – Fachgenossen – provozieren soll, muss es provokatorischen Stil haben: Es sollte ein Gespräch zwischen Provozierenden und Provozierten stattfinden …“8

Bei der feierlichen Rektoratsübergabe in der voll besetzten Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität werden am 25. November (26. November?) die Honoratioren mit Luftschlangen, Kon-
fetti und Seifenblasen und dem Ruf „Wir begrüßen den närrischen Elferrat unserer Universität mit einem kräftigen Helau!“ und „Aufgeblickt, himmlische Heerscharen!“ erfolgreich empfangen. Auf einem dpa-Bild ist zu sehen, wie ein Ordner auf der Empore die Studierenden vergeblich zur Ruhe anhält.9 Die Universitätsverwaltung kündigt Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs sowie diszi-
plinarische Maßnahmen an. Der AStA distanziert sich vom „unqualifizierten Vorgehen einzelner Studenten“. Für Gerd Koenen beginnt 1967 das „rote Jahrzehnt“10, in dem Studierende mit ihrem „aggressiven Antiliberalismus einen Systemwechsel erzwingen“ wollen.

In der Großen Aula findet am 19. Dezember ein 2. Teach-In statt, auf dem eine Änderung des Aus-
ländergesetzes gefordert wird. Der dort anwesende Polizeispitzel Georg Hartmann mit der Dienst-
nummer 0163 von der Kriminalabteilung III (Politische Delikte) wird erkannt und zum Rektor ge-
bracht. Damit beginnt die Auseinandersetzung um die Frage „Polizei in der Universität“.

(zuletzt geändert am 29.1.2020)


1 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 Vgl. Süddeutsche Zeitung 140/1967.

3 Vgl. Münchner Merkur 143/1967.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 155/1967.

5 Siehe „Im Juli 1967 wurde das ‚Studentenwerk’ fertiggestellt …“ von Rolf Pohle.

6 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

8 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

9 dpa-Foto, Fotomuseum. Vgl. Münchner Merkur vom 27. November 1967.

10 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 — 1977, Köln 2001.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: StudentInnen