Materialien 1953

Der Aufstand Lieschen Müllers

Es gibt eine Anzahl von Statistiken, die berechnen, wie viel Morde, Ehebrüche, Dirnen in den in einem Jahr in Deutschland zur Aufführung gekommenen Filmen zu bewundern sind. Es existiert aber wohl keine Statistik darüber, wie viel Heideröslein, lächerliche Tränen, tölpelhafte Gewaltkomik (deutscher Humor), wie viel Zelluloid-Himbeersaft das deutsche Filmpublikum über sich ergehen lässt: Es gibt noch keine Statistik des Kitsches.

Eine solche aufzustellen wäre freilich müßig, denn die deutschen Filme, die nicht in dieser Statistik erscheinen würden, sind wirklich an den Fingern einer Hand abzuzählen. Der deutsche Film dürfte heute das niedrigste künstlerische Niveau in Europa erreicht haben.

Fragt man sich aber, warum das Publikum es sich gefallen lässt, mit einer solchen Flut von sacharingesüßtem Haferschleim überschüttet zu werden, dann lässt sich eine alarmierende Tatsache feststellen: „Das Publikum“ lässt es sich nicht nur gefallen, sondern es frisst den Schwindel in sich hinein und schreit nach mehr. Zur Charakterisierung dieses Phänomens hat der halbintellektuelle Sprachgebrauch in Verquickung von Ursache und Wirkung den Begriff des „Lieschen Müller“ geprägt.

Lieschen Müller (das auch in männlicher Form vorkommt) ist das Durchschnittsgeschöpf kleinbürgerlicher Herkunft, das, erstickend im Einerlei seines freud- und farblosen Alltags, mangels Möglichkeit realer Befriedigung seiner verschiedenen Wünsche – Liebe, Abenteuer, Luxus – Trost im Rauschgift des Kitsches sucht.

Nun hat es ähnliches schon zu allen Zeiten gegeben, auch den falschen Trost des Kitsches. Wie lässt es sich aber erklären, dass heute die gesamte Massenkunst – vor allem naturgemäß der Film – diesem Geschmack Rechnung trägt?

Der Aufstand der künstlerisch Anspruchslosen hat zwei Gründe: Einmal, dass in den Schichten, die in der Hauptsache das Filmpublikum stellen, heute die Erfüllung vieler Wünsche unmöglicher ist, eine größere innere Leere besteht als je; zweitens, dass das Pseudo-Heilmittel hierfür, das Rauschgift Kitsch heute in der Form des Films viel rascher, viel billiger, viel massenhafter herzustellen ist als früher. Diese beiden Faktoren erreichen in sich steigernder Wechselwirkung eine stete Senkung des künstlerischen Niveau des Films.

Die Hersteller und Verteiler dieses Rauschgiftes sind die Filmproduzenten. Sie hätten es in der Hand, die Kitschfabrikation zu drosseln und gute Filme zu machen. Aber nein, sagen sie, das können wir nicht, das Publikum will Sekt und Heideabend. Die Produzenten lassen Filme wegen des Kassenerfolges drehen. Also, möchte man meinen, kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Da die Konsumenten, das Publikum, nur für eine bestimmte Art von Filmen bezahlen wollen. müssen die Produzenten eben das herstellen, was gekauft wird: Kitsch.

Aber so einfach ist die Rechnung nicht. Zugegeben, die Filmproduktion hat Geschäftscharakter – aber muss man nicht verlangen, dass die Filmproduzenten sich ihrer Verantwortung als Inhaber von Massenbeeinflussungsmitteln bewusst sind? Es wird doch hier ein circulus vitiosus ausgelöst: Die Leute wollen Kitsch – gut, man gibt ihn ihnen. Wie aber jedes Rauschgift, macht auch der Kitsch süchtig. Je mehr man genießt, desto mehr will man. Und die Hersteller des Kitsches fördern diese Entwicklung; denn nun gibt es kein Risiko, kein Wagnis, kein Experiment mehr, man dreht nach Schema: Sekt, Helden, Liebe, Sentimentalität; und die Ware wird reißend abgenommen. Kitschfilme sind billiger in der Herstellung, reich im Ertrag. Das Geschäft blüht, die Verantwortung, die Kunst kann der Teufel holen.

Was sich hier abspielt, kann uns nicht gleichgültig sein. Es soll hier gar nicht die Rede sein von der ständigen Kunstentfremdung der Menschen und der Diskreditierung des Filmes. Viel tiefergehend ist die durch das sanft einlullende Gift des Kitschfilms hervorgerufene fortschreitende Verdummung der Massen. Sie ist gar nicht unbeabsichtigt. („Es ist immer noch besser, die Leute sehen sich das an, als …")

Durch die von jedem erlebte innere „Erhebung“, die der Filmbesucher beim Genuss eines „heiteren, unbeschwerten Lustspiels" oder einer Ballade voll heulender Sentimentalität erlebt, wird er abgelenkt von den Problemen, die ihm gestellt sind. Der rosarote Schleier der Traumfabrik vernebelt sein Denken und anstatt die Ursachen seines Unbefriedigtseins aufzuspüren und um sein Recht zu kämpfen, schafft er sich verlogene Ersatzbefriedigung durch die appetitliche Täuschung: es ist alles gar nicht so schlimm. Man sieht das, wie gesagt, mancherorts gewiss nicht ungern; wenn schon kein Brot da ist, dann jedenfalls Spiele. Da sich der Filmbesucher unbewusst mit dem Darsteller identifiziert, widerfährt ihm das Glück, das der auf der Leinwand hat, gibt es für ihn das unvermeidliche happy-end.

Das ist gefährlich; denn es ist nicht nur so, dass der Filmkunde auf kurze Zeit seine Sorgen vergisst (das wäre ja harmlos), nein, das heiter säuselnde Glück, das er mit dem Filmhelden erlebt, verwischt ihm auf die Dauer die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit, der Vampyr Kitschfilm saugt aus ihm auf die Dauer (durch Vernebeln der Erkenntnis von der trüben Existenz des kleinen Mannes) den schlummernden Entschluss zu realer Verbesserung und gibt ihm dafür das synthetische Zelluloidglück einer allmählich in die Wirklichkeit überfließenden Scheinwelt.

Man muss scharf erkennen, dass diese Massenverdummung, zum Geschäft gemacht, eine moderne Form der Ausbeutung darstellt: In jedem Menschen vorhandene, durch Zeitumstände verschärfte seelische Zustände werden hier scheinbefriedigt im Wege der Auslösung niedriger psychischer Mechanismen; eben dadurch wird das Bedürfnis gesteigert und in klingende Münze verwandelt. Das Ganze wird erleichtert durch die Monopolstellung, die die Produzenten einnehmen, und durch ihre stillschweigende Übereinkunft, nur Kitsch zu produzieren.

Wollen wir diese gefährliche Entwicklung hemmen, so gibt es nur ein Mittel: Wir müssen aufklären, kritisieren, anleiten. Wir dürfen nicht dulden, dass sich die Massen vom Wesentlichen ablenken und widerstandslos verblöden lassen. Wir erkennen den Kitschfilm als gefährlichen Feind, darum appellieren wir an die Vernunft.

Konrad Kittl


links. Monatszeitschrift für demokratischen Sozialismus 12 vom September 1953, 23.

Überraschung

Jahr: 1953
Bereich: Medien