Materialien 2011
Zeit neuer Proteste?
Schwabing demonstriert und das offizielle München dokumentiert
Eigentlich geht es nur um eine schäbige Baracke. In ihrem düsteren Inneren befindet sich eine billige Bierkneipe, genannt „Schwabinger Sieben“. Seit der Nachkriegszeit ist sie die Anlaufstelle für Lebens- und andere Künstler, für Studenten und Stenze, für Rocker und Zocker, ein Ort zum Absacken und Abstürzen. Für viele ist „die Sieben“ fast so legendär wie einst der „Simplicissimus“ und für manche gar ein Symbol westlicher Subkultur. An der stark frequentierten Straße vor die-
sem ziemlich versteckten Hinterhof-Biotop befinden sich außerdem ein nostalgisches Kino namens „Metropol“, ein vergleichsweise feines Nagelfeilstudio sowie „Mama`s Kebab“.
Nicht zum erstenmal nun ist das Areal Feilitzstraße Nr. 7 – daher der Name der Spelunke – ins Spotlicht von Spekulanten geraten. Hamburger Investoren wollen es endlich doch abreißen und durch einen Appartementblock ersetzen. Auf dass – so befürchtet Freunde Münchner Lebensart – das Laternenviertel östlich der Münchner Freiheit seinen Altschwabinger Charakter vollends ver-
lieren könnte. Dabei war es gerade in den letzten Jahren, nach langer Agonie infolge der unver-
meidbaren Kommerzialisierung, wieder ein bisschen aufgeblüht.
Doch diesmal hat die Todesanzeige für die mehrmals tot gesagte „Sieben“ – Ende Juni soll geräumt werden – ein lautes Signal ausgelöst. Eine Bürgerinitiative „Rettet die Münchner Freiheit!“ rief zum Widerstand gegen die großen Geld- und Gleichmacher, zum Kampf für ein „kulturelles Schwa-
bing“. Tausende kamen am 17. Mai zur ersten Demo. Auf dem Protest-Podium agierten und agi-
tierten elf namhafte Sänger, Kabarettisten und Rapper, darunter Erwin Pelzig, Andreas Rebers, Willy Michl und – linker und aggressiver denn je – Konstantin Wecker.
Offenbar geht es gar nicht mehr allein um den längst vergammelten Kultschuppen. Auch nicht um eine Münchner Variante des „Wutbürgertums“, sondern um einen Weckruf. Wecker sagte quasi das Ende der bürgerlichen Ruhezeit an: In den letzten 20 Jahren hätten es „gewisse ideologische Kreise des Neoliberalismus“ geschafft, den Menschen einzureden, dass jede Form von Empörung und Engagement nicht sexy, sondern uncool sei, doch damit sei es vorbei. Die Menschen griffen wieder zu ihrem Recht, sich zu empören – gegen die vielen Ungerechtigkeiten in der Welt.
So passt die verhältnismäßig kleine Schwabinger Revolte recht gut zu anderen, mehr offiziellen Veranstaltungen in München. Das Stadtmuseum und das Stadtarchiv eröffneten Ausstellungen zum Thema „Protest in München“, die im wesentlichen aus Pressefotos bestehen. In U-Bahnhöfen wurden Plakate aus den unruhigen Sechzigerjahren geklebt, die Passanten schier schockieren. Ein im Auftrag des Kulturreferats herausgegebenes Buch (Volk Verlag) dokumentiert Proteste in Mün-
chen seit 1945 unter dem Titel „Auf den Barrikaden“. Und eine Website www.protest-muenchen.sub-bavaria.de bietet eine Chronik diesbezüglicher Ereignisse.
Seit Kriegsende waren in München alljährlich 800 bis tausend Demonstrationen angemeldet wor-
den, hat Michael Stephan, der jungdynamische Chef des Stadtarchivs, vom Kreisverwaltungsrefe-
rat ermitteln lassen. Auf Antrag des Grünen-Fraktionschefs Siegfried Benker hatte der Stadtrat im April 2009 mehrheitlich das Projekt beschlossen, zunächst unter dem Titel „Das andere München“. Wenngleich die aktuellen Titel nicht mehr gar so kontrovers klingen und die ursprünglich geplante Großausstellung geplatzt ist, vermitteln die Dokumentationen nun doch das Bild einer Stadt, die sich seit der am 28. Mai 1945 an der Feldherrenhalle fotografierten Plakatierung „Ich schäme mich, dass ich ein Deutscher bin“ und den Hunger-Demos von 1946 anscheinend in einem Dauer-
zustand der Unruhe und Konflikte befunden hat.
Ein großer Teil der Münchner Protestserie hat sich – womit wir zur „Sieben“ zurückkehren – in Schwabing abgespielt. Was kein Zufall ist. Waren doch in diesem Stadtteil vor rund hundert Jah-
ren und später so berühmte oder eher berüchtigte Umstürzler wie Lenin und Hitler unterwegs, gar nicht zu reden von literarischen Revoluzzern wie Mühsam, Becher, Graf und vielen anderen.
Nicht zum erstenmal auch haben Schwabinger Proteste einen gewissen Modell-Charakter. Im heißen Sommer 1962 etwa waren die fünf Tage andauernden „Schwabinger Krawalle“ das Signal für eine Veränderung politischer Strukturen oder sogar, wie der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel später erkannte, „zumindest bei den Jüngeren doch schon ein unartikulierter Protest gegen die Wohlstandsgesellschaft und das Wirtschaftswunder.“
In der „Traumstadt“ Schwabing hatte denn auch die studentisch initiierte Revolte von 1968 ihren Münchner Kristallisationskern. Wenn zum Beispiel der vollbärtige Bürgerschreck Fritz Teufel mit Kommunarden und Tross in Schwabing einzog, dann wurden die Schwabinger Wirte vom Polizei-
präsidium vorgewarnt und im Innenministerium gar eine vorbeugende Verhaftung erwogen. Mün-
chens Oberbürgermeister Christian Ude, damals Reporter, konnte so manchen Rabatz aus seinem Heimatkiez melden.
In der „Schwabinger Sieben“ jedoch hatte die große bürgerliche Unruhe eher einen Ruhepol. Da-
mals noch waren alle revolutionären Gelüste überlagert von – wie der zeitweise revolutionäre Dichter Rainer Maria Rilke einmal Münchnerische Atmsphäre wahrgenommen hat – „Rauch und Bierdunst“. Heute scheint ein bisschen Revolte in dieser Luft zu liegen. Zumindest so lange dort noch das Bier in Strömen fließt.
Karl Stankiewitz