Materialien 2011
Chapeau
Getragene Weisen hallen über den Oberanger. Eine erwartungsfrohe Menge steht locker gruppiert. Gleich wird der Oberbürgermeister sprechen. Hinter ihm wird sich das Denkmal für Kurt Eisner erheben. Ein Polizeiauto parkt an der gegenüberliegenden Straßenseite, einige uniformierte Poli-
zisten beobachten das Geschehen, eine Gruppe stadtbekannter Zivilpolizisten steht an der Westsei-
te des Geschehens.
Der Oberbürgermeister spricht, begrüßt die Honoratioren, Stadträte, einen Altoberbürgermeister, eine Vorsitzende, freut sich über das zahlreiche Erscheinen der Anwesenden, da drängt sich ein alter Mann mit Schlapphut, Gehrock und einem Kneifer auf der Nase durch die Menge, täuschend ähnlich dem, dem das Denkmal errichtet, schiebt sich durch die Menge und steht dann neben dem Redner, der ein wenig irritiert sich aber dann doch wieder seinem Manuskript widmet.
Die Spannung steigt und als der Redner meint, der auf dem Denkmal angebrachte Spruch „Jedes Menschenleben soll heilig sein“ sei eine zentrale Botschaft des pazifistischen, sozialistischen Revo-
lutionärs, da schüttelt Eisner den Kopf und wehrt mit einer Handbewegung deutlich ab. Immer wieder kommentiert er mit Gebärden das Gesagte und meint schließlich laut, „das hier hat mit mir nichts zu tun“.
Fatal, dass sich die Aufmerksamkeit vieler Zuhörerinnen und Zuhörer Kurt Eisner zuwendet und seine Mimik, seine Reaktionen registriert. Der sonst immer im Mittelpunkt stehende Oberbürger-
meister hat Konkurrenz bekommen. Jetzt redet er auch auf Eisner ein. Der wehrt ab. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut.
Inzwischen habe ich mich an den Rand des Geschehens begeben und bemerke irritiert neben mir eine Bewegung, erst einen verhaltenen Schatten, der dann deutlich wird, aber durchsichtig bleibt und beinahe genauso aussieht wie der Eisner da vorne neben dem Oberbürgermeister. Der Schat-
ten wendet sich mir zu und sagt leise:
„Ja, Genosse Gans, Entschuldigung, Sie sind ja kein Genosse, dass ich das vergessen habe, aber da habe ich eine Bitte an Sie. Da vorne, der Kollege, der meine Gestalt angenommen hat und da diese weichgespülte Rede des Stadtoberhauptes kommentiert, sagen Sie ihm bitte einen herzliche Gruß von mir, sagen Sie ihm: Chapeau – Chapeau, er macht das glänzend. Ich bin froh, dass er das macht. Denn diese Veranstaltung ist eher peinlich, furchtbar ist sie, nicht einmal die Internationale ist zu hören, also sagen Sie ihm Dank und einen Gruß. – Vergessen Sie das nicht, Genosse Gans,“ er kichert, „was Sie da für einen Namen haben, seltsam! Und bei der Gelegenheit können Sie ja allen sagen, die es hören wollen: Der von den Parteien in Geiselhaft genommene Parlamentarismus in der formalen Demokratie entlarvt sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr. Nur der Räte-
kongress ist das Fundament einer wahren Demokratie. Aus ihm heraus wachsen die bewusstesten Genossinnen und Genossen, und nur sie wissen, wie direkte und damit echte Demokratie möglich wird. Denn jedes Mitglied der Gesellschaft soll befähigt sein und auch beauftragt werden können, die Geschicke der Gesellschaft verantwortlich zu lenken. Sagen Sie das allen, die es hören wollen, und noch einmal an meinen Kollegen da vorne: Chapeau! Vergessen Sie das nicht …“
Der Schatten löst sich auf und ich wende mich wieder dem Geschehen zu. Einige Zwischenrufe stören die Rede des Oberbürgermeisters, der etwas unwillig reagiert, und auch Eisner verlässt den Ort vor dem Denkmal. Polizisten umringen ihn, verlangen die Personalien.
Der Oberbürgermeister erwähnt noch, dass beinahe der jetzt amtierende Ministerpräsident ebenfalls gekommen wäre, sich aber in letzter Minute habe entschuldigen lassen müssen, erklärt das Denkmal für eröffnet, dünner Applaus, die Musik setzt ein. Es ist der 30. Mai 2011 um die Mittagszeit. Getragene Weisen hallen über den Oberanger.
Franz Gans
Münchner Lokalberichte 12-13 vom 9. Juni 2011, 15 f.