Materialien 1965
Freitisch
… Du kannst dich bestimmt an die Diskussionen über die Notstandsgesetze erinnern, sagte ich. Ging ja hoch her.
Ja, stimmt, das war im Juni, als im Bundestag darüber abgestimmt werden sollte. Bei jedem Mit-
tagessen die Diskussion, recht heftig, hauptsächlich zwischen Falkner, Euler und mir auf der einen und dem Juristen auf der anderen Seite.
Das war eine Vorahnung von der Auseinandersetzung, die drei Jahre später folgen sollte, mit De-
monstrationen, brennenden Polizeiwagen und Hochschulbesetzungen.
Bei uns in dem Sommer nur ein Tischgespräch.
Falkner ereiferte sich, Gesicht gut durchblutet, ziemlich laut, das trug noch zu den Angestellten-Tischen hinüber. Neue Worte waren zu hören: Das Wort Demokratieabbau. Das Wort Pressezen-
sur. Das Wort Polizeistaat.
Der Jurist hatte keinen leichten Stand, obwohl er ganz sachkundig argumentierte. Für den Not-
stand müssten gesetzliche Regelungen geschaffen werden. Das Widerstandsrecht, darüber erhitz-
ten sich die beiden. Das soll doch eingeschränkt werden. Nein, es soll definiert werden. Nein. Ja. Kant hat gesagt: Es kann kein Widerstandsrecht geben. Denn wenn die oberste Gesetzgebung eine Bestimmung zum Widerstand enthielte, könne sie nicht die oberste sein.
Du hattest dich ja richtig vorbereitet, sagte Euler.
Nun, ich hatte am nächsten Tag Friedrich Bouterwek zitiert, der Kant widersprochen hatte: Das sei der paradoxeste aller paradoxen Sätze, dass die bloße Idee der Oberherrschaft mich nötigen soll, jedem, der sich zu meinem Herren aufwirft, als meinem Herren zu gehorchen, ohne zu fragen, wer ihm das Recht gebe, mir zu befehlen.
Die Gesetzesänderung wurde am 15. Juni 1965 im Bundestag mit den Stimmen der SPD abgelehnt. Damit beruhigte sich die politische Diskussion am Mittagstisch.
Knappe drei Jahre später stimmten die Genossen, sie saßen inzwischen an den Fleischtöpfen der Macht, zu. Muss man sich mal vorstellen. Die Malaise der Sozialdemokraten, immer staatstragend die Genossen. In Bonn, auf der Demonstration, haben wir uns kurz gesehen. War das letzte Mal. Und kein schlechter Ort der Erinnerung …
Uwe Timm, Freitisch. Novelle, Köln 2011, 102 f.