Materialien 1992

Hexenkessel beim Gipfel

Mittendrin am 6. Juli in München

München, 6. Juli: 10 Uhr 30. Sebastian und ich (beide aus Berlin), Karl-Heinz und Helmut (beide Bonn) wollen die G7 mit empfangen. An der Sicherheitszone durch Kontrolle, Leibesvisitation, Me-
tallsuchgerät vorbei und wir waren drin. Sekunden später wird Karl-Heinz beinahe verhaftet. Er hat angesichts einiger betont unauffälliger Herren „Schon wieder Zivis!“ gemurmelt. Nach einiger Diskussion lassen sie ihn dann doch durch.

10 Uhr 50. Die ersten Luxusschlitten fahren vor. Ein Konzert aus Trillerpfeifen empfängt sie. Wir vier haben keine. Sprechchöre: „WWG, internationale Völkermordzentrale!“ und „Freiheit für alle politischen Gefangenen!“. Eine Kette Unterstützungskommandos des Bayerischen Innenministe-
riums (USK) rückt gegen die Tribüne vor. Unvermittelt greifen sie an und versuchen die Protestie-
renden in Richtung Marienplatz abzudrängen. Schläge, Schmerzensschreie, Panik. Wir bilden eine Kette und versuchen, die Zurückweichenden vor dem USK zu schützen. Dies gelingt nur bedingt, das USK konzentriert sich vorrangig auf uns. Ständig fallen Schläge und wir können in dem Ge-
dränge nicht zurückweichen. Die Kette zerreißt. Karl-Heinz und Helmut werden von uns getrennt. Die meisten Leute sind schon vom Platz geschoben. Sebastian wird von einem Bullen an den Haa-
ren gepackt und geschlagen. Ich versuche dazwischenzugehen und werde abgedrängt. Durch ein Spalier von Bullen gelange ich in den Straßenzug hinter dem Rathaus, einen Steinwurf entfernt vom Marienplatz.

11 Uhr 00. Hier hat sich eine Gruppe von Leuten mit einem Transparent versammelt, die offen-
sichtlich erst gar nicht in die Sicherheitszone gelassen worden sind. Alle, welche aus dieser hinaus-
geprügelt und -gedrängt werden, landen hier. Jutta Ditfurth sehe ich, Sebastian und Karl-Heinz. Neben mir steht Ilona. Eine Kette USK sperrt den Zugang in die Sicherheitszone. Wir beginnen erneut mit Sprechchören. Daraufhin marschieren rechts und links von uns weitere Bulleneinheiten auf. Ilona sagt „Das wird ein Kessel!“. Wir bilden Ketten.

11 Uhr 10. Ohne Warnung greift uns das USK an. Mein linker Nebenmann lässt los. Rechts neben mir wird Ilona zu Boden gerissen. Ich versuche, ihr wieder aufzuhelfen. Im selben Moment wird mein linker Arm auf den Rücken gedreht und ich ebenfalls zu Boden gezwungen. Ein anderer Bulle verdreht mir die rechte Hand schmerzhaft zum Unterarm hin. Die beiden schleifen mich einige Meter weiter und ich bekomme Handschellen auf den Rücken. Zwei Leute (offenbar von der Pres-
se) fragen nach meinem Namen. Ich rufe ihn im Vorübergehen zu. Die Bullen unterhalten sich kurz: „Auto oder zu Fuß? Zu Fuß gehts schneller!“ Die beiden zerren mich im Laufschritt weiter. Ich rufe mehrmals: „Was soll denn das, ich wehre mich doch gar nicht!“. „Mei, des is uns do egoi!“ Weitere Kommunikationsversuche enden sofort mit Rippenstößen von hinten. Vor dem Polizeiprä-
sidium in der Ettstraße werde ich gefilzt und bekomme die Handschellen abgenommen. Der zweite Bulle steht mit einem Knüppel daneben: „Wennst was versuchst, schoasts!“

11 Uhr 20. Erst im Polizeipräsidium kann ich erklären, dass ich schwerbehindert bin. „So schaust grad aus!“, gibt es zur Antwort. Fotografie, Fingerabdrücke, Personalien. Der Bulle schaut ziemlich dumm, als ich hier zusätzlich den Schwerbehindertenausweis vorlege. Er versucht noch eine halbe Entschuldigung zu stottern, die ich jedoch nicht akzeptiere. Er weiß weder, ob ich fest- oder in Ge-
wahrsam genommen bin, noch warum.

Während der Aufnahme meiner Personalien schleifen mehrere Bullen ein weinendes Mädchen he-
rein und stellen sie gewaltsam vor die Kamera. Sie wehrt sich, schreit. Erst das Dazwischengehen von Jutta Ditfurth, welche ebenfalls festgenommen war, beendete diese Szene. Nach einer weiteren Durchsuchung sperren sie mich in einen durch zwei Gitter abgesperrten, etwa 30 m langen Gang, in dem sich schon etwa 20 Leute befinden.

13 Uhr 00. Nachdem über 100 Leute in diesem Gang zusammengepfercht sind (es sollen noch viel mehr werden), beginnen die Bullen einzelne Leute herauszurufen. Das frisch entstandene Knastkollektiv weigert sich und verlangt die Freilassung aller. Der Oberbulle erklärt uns, er habe zwar jetzt keine Leute, um uns zwangsweise rauszuholen; aber in dem Gang gäbe es weder Toilette, noch Wasser. Er stellt jeder/m frei, ob sie/er geht oder nicht. Da mir infolge einiger Schläge in den Magen nicht gut ist, gehe ich (Idiot!). Nach einer weiteren Durchsuchung lande ich in Zelle „la“. Dort gibt es zwar Toilette und einige Bänke, auch hier kein Wasser, dafür aber eine prima Stim-
mung. Wir singen „Die rote Zora“, „Internationale“, „Resolution der Kommunarden“, „Ton, Steine, Scherben“-Texte und vieles andere. Einige Leute schmücken die Zelle mit Spuckis aus, einer hat sogar ein Transparent (um den Bauch gewickelt) mit hereingebracht. Nach wenigen Minuten hängt es nach halsbrecherischer Kletterpartie aus unserem Fenster – leider nur im Innenhof. „Weiber-
wirtschaft statt GeldHERRschaft“: Jubel aus anderen Zellen beglückwünscht uns.

Als wir schon etwa 30 Leute sind, schicken die Bullen einen palästinensischen Genossen in unsere Zelle. Bei der Festnahme hatten sie ihm einen Arm ausgekugelt und dann zwei Stunden ohne me-
dizinische Behandlung auf dem Flur liegengelassen. Sein Arm ist jetzt zwar wieder gebrauchsfähig, aber sonst sieht er aus wie der Tod.

17 Uhr 00. Miese Bullen! Einige von uns werden aus der Zelle gerufen zum Verpflegung-Fassen. Wir gehen mit – ich auch (doppelter Idiot!). Mit einer Schachtel Kekse in der Hand landen wir binnen weniger Minuten in einer Wanne und eine halbe Stunde später in der Strafvollzugsanstalt Stadelheim – in Einzelhaft. Dies bleibt der einzige Transport von 18 Festgenommenen, den die Bullen nach Stadelheim bekommen; unsere Kumpels sind nun vorgewarnt und weigern sich. Für mich wird es lediglich von Vorteil, dass ich dort sofort im Krankenrevier untersucht werde. Behan-
delt werde ich jedoch nicht.

20 Uhr 00. Ein Richter mit Zivilcourage hat das Anklagekonstrukt des Polizeichefs zerschlagen: Lautstarker Protest ist keine Nötigung, ebensowenig wie lautstarker Jubel. Die Bullen müssen die 482 Gefangenen nach und nach freilassen (tatsächlich dürften es noch mehr gewordenen sein). Wir in Stadelheim kommen jedoch erst nach Mitternacht raus.

Nachbemerkung: Am nächsten Vormittag war Demo. Angesichts der schockierenden Bilder in Zei-
tung und Fernsehen sympathisierte ein Teil der Münchener Bevölkerung deutlich mit uns. Dies galt jedoch nicht für das USK. Bei dieser und den nächsten Demos am 7. und 8.Juli gab es erneut Konfrontation, Verletzte, Festgenommene.

Gerd Bedszent
LinksökologInnen Berlin

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WWG
Nackte Zahlen

Offiziell kostete der Weltwirtschaftsgipfel knapp 35 Millionen DM, zwei Drittel davon aus dem Staatssäckel. BMW und andere heimische Konzerne sponserten den Rest. Extra für die Übernach-
tungen der sieben Staats- und Regierungschefs wurden ganze Hotels umgebaut. Im City Hilton waren allein 250 Zimmer für die japanische Delegation gebucht. Für Bush und Gefolge wurden im Sheraton 580 Zimmer und Suiten für insgesamt 2,5 Millionen DM ausgebaut. 9.000 PolizistInnen aus allen Bundesländern hielten den Gipfel in Schach. Die etwa 6.000 angereisten JournalistInnen erhielten einen Rucksack mit Werbegeschenken (15 Pfund) samt Bierkrug und zwei Flaschen Wein. Für den Zutritt zu den einzelnen Ereignissen waren 40 Sonderausweise nötig. „Aber ein Trost bleibt: Schaltet man den Fernseher aus und das Radio gar nicht erst ein, verschwindet der Gipfel, und wir sind wieder unter uns. In der Tiefebene,“ kommentierte Henning Venske von der Münch-
ner Lach- und Schießgesellschaft.

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Gegendemos
Trotz alledem

Vier Stunden lang schoben und standen am Sonnabend 15.000 – 20.000 Menschen auf einer grad 5.000 Meter langen Route durch Polizeispaliere und Innenstadt. Trotz zweier Schwerverletzter und insgesamt etwa 80 Verhaftungen wurde es zum politisch abgetrotzten Erfolg. Drei Aktionstage lang ging es jeweils unter einem andren Motto durch die City: eine Frauendemo wurde von der Polizei vorzeitig aufgelöst; eine Antirassismus-Demo ging u.a. vorbei an einer bayrischen Neonazi-Zentrale mit Polizeischutz; eine „Freiheit für die politischen Gefangenen“-Demo; ein Umzug von Fachschaften der Münchner Uni; ein Sternmarsch gegen Massenverhaftungen und „Münchner Kessel“; der Abschluss der Anti-WWG-Kampagne. Dazu kamen Konzerte, Straßentheater, Happe-
nings und ein „Antifaschistisches Frühstück“ auf der Theresienwiese.

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Gegengipfel
Déja vu

Trotz kurzfristig gesperrter Räume durch die Uni wurde der von 60 Gruppen getragene Gegen-
kongress durchgeführt: Sieben evangelische und zwei katholische Gemeinden gewährten „Asyl“. Unterm Kirchendach fühlten sich etliche Westlinke befremdet, „Ossis“ dagegen zurückversetzt in die Endzeiten der DDR.


Soz. Sozialistische Zeitung 15/16 vom 13. August 1992, 13.