Materialien 2002

SICHERHEITSKONFERENZ – Ausnahmezustand in München

GEHEIM dokumentiert einen Bericht der Roten Hilfe e.V.

Vom l. bis 3. Februar fand in München die 38. „Internationale Konferenz für Sicherheitspolitik“ statt, an der neben mehreren Hundert MilitärexpertInnen 38 Außen- und Kriegsminister der NATO- und EU-Staaten sowie deren Generalsekretäre, Abgeordnete und SenatorInnen teilnahmen.

Auf dieser jährlich stattfindenden Militärtagung ging es unter dem Aspekt des „Kampfes gegen den weltweiten Terrorismus“ „um die Planung gegenwärtiger und zukünftiger Kriege, die Aufstellung schlagkräftiger mobiler Eingreiftruppen und die Entwicklung neuer milliardenschwerer Rüstungsprogramme“ (aus dem Aufruf „Smash NATO“ des „Anti-NATO-Komitees MUC“).

Dabei wurden die als „unterentwickelt“ bezeichneten europäischen PartnerInnen darauf hingewiesen, die im Bereich militärischer Fähigkeiten angesiedelten „technologischen Lücken“ zur imperialistischen Weltmacht USA zu schließen, um die aus 3,8 Millionen SoldatInnen bestehende Nato in einen „fundamentale[n] Garant[en] euro-atlantischer Stabilität und Sicherheit“ (NATO-Generalsekretär George Robertson) zu transformieren.

Protest

Um Protest gegen die in München abgestimmte, als globale ..Anti-Terror-Maßnahme“ ummäntelte Kriegspolitik der so genannten „zivilisierten Welt“ bereits im Keim zu ersticken und den laut Verfassungsschutz mehreren Tausend anreisenden „gewaltbereiten Autonomen“ aus dem In- und Ausland jegliche Entfaltungsmöglichkeiten zu nehmen, hatte der Freistaat Bayern über seine Landeshauptstadt seit ein paar Tagen den Ausnahmezustand verhängt und damit die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bestätigte schließlich das über das Münchner Stadtgebiet verhängte Gesamtverbot aller Demonstrationen und Veranstaltungen. Das „Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz“, deren Konto auf behördlichen Druck hin von der Stadtsparkasse gekündigt worden war, verzichtete auf Grund des Fehlens einer schriftlichen Begründung des Demonstrationsverbots auf einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht, weil er sowieso nicht mehr rechtzeitig hätte behandelt werden können. Damit war jener Zustand eingetroffen, der Protest in einem solch hochgerüsteten Sicherheitsstaat unmöglich macht: Jede noch so kleine Ansammlung von Menschen im Stadtgebiet Münchens kann polizeilich als illegal gewertet und aufgelöst werden.

Kriegspolitik verlangt Demokratieverbot –
Der staatliche Repressionsapparat zeigt sein wahres Gesicht

Es hat vor und während der Sicherheitskonferenz so viele Eingriffe in fundamentale Grundrechte (darunter das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Versammlungsfreiheit) gegeben, dass deren vollständige Aufzählung den hiesigen Rahmen sprengen würde.

An dieser Stelle also nur ein paar repräsentative staatliche Maßnahmen zur polizeilichen Durchsetzung des vollständigen Demonstrationsverbots:

Am 31. Januar 2002 wurde – unter dem staatsanwaltschaftlichen Konstrukt der „Suche nach Aufrufen zu Straftaten“ – der Infoladen München von mehr als 20 Polizeikräften durchsucht; dabei wurden mehrere Gegenstände beschlagnahmt.

Von mehr als 2.000 Menschen auf dem Marienplatz zur Festnahme von 340 Personen, von denen die meisten in der Polizeikaserne Tegernseer Landstraße gelandet sind und erkennungsdienstlich behandelt wurden.

Vor allem am 2. Februar 2002 wurden mehrere Busse mit potenziellen DemonstrationsteilnehmerInnen entweder bereits in ihren Herkunftsorten/-ländern am Weiterfahren gehindert (wie in Köln und Berlin) – oder auf dem Weg nach München; die polizeilichen Kontrollen auf Autobahnen und in Zügen nahmen teilweise krasse Formen an; Menschen, die dem Bild der Polizei von typischen DemonstrantInnen entsprechen, wurden am Abfahren oder bei der Einreise in die BRD gehindert und zurückgeschickt.

Der als gewaltfreie Aktionsform geplante „Karneval“ gegen die von „globaler Sicherheit“ träumenden BekämpferInnen des „internationalen Terrorismus“ wurde am Samstag Vormittag durch eine übermäßig große Polizeipräsenz verhindert; es gab etliche Platzverweise auf dem Jakobsplatz wie auch überall sonst in der Innenstadt; teilweise wurden Menschen an den Bahnhöfen kontrolliert und sogar festgenommen.

Uns ist ein Fall bekannt, in dem eine Person aus einem Bus heraus vorübergehend festgenommen wurde, weil sie „gegen Meldeauflagen“ der Polizei verstoßen habe; dabei hat sie das erst bei persönlicher Aushändigung rechtskräftig werdende „Gefährderanschreiben“, wonach sie während der Konferenz zu Hause zu bleiben habe, niemals erhalten geschweige denn übergeben bekommen; ein Polizist meinte ihr gegenüber sogar, dass sie bereits am Freitag in München gesehen worden sei und die Einsatzkräfte alles zu unternehmen haben, sie am Einreisen in die bayerische Metropole zu hindern.

Andere trafen – zur „Vorbeugung von Straftaten“ – Ingewahrsamnahmen, die mit einem willkürlich festgelegten Zeitrahmen der „Aktionen“ ihr Ende finden würden; dabei wurden Menschen vorübergehend festgesetzt, gegen die noch niemals im Leben eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt.

Nach einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Siggi Benker, dem Fraktionsvorsitzenden der Münchner Grünen, und dem Liedermacher Konstantin Wecker wurde der Anmelder der Protestaktionen des aus mehr als 150 Organisationen bestehenden „Bündnisses gegen die NATO-Sicherheitskonferenz“, Claus Schreer, bis zum Sonntag festgenommen; er soll zu einer nicht genehmigten Versammlung aufgerufen haben; dabei wollte er nur seiner gesetzlichen Verpflichtung als Versammlungsleiter entsprechen und der Menge auf dem Marienplatz das Verbot ihres Protestes mitteilen. [Bereits vorher war der Sprecher des „Bündnisses gegen die Nato-Sicherheitskonferenz“, Hans-Georg Eberl, vorübergehend festgenommen worden.]

Einsatzhundertschaften der Brandenburger Polizei riegelten – zum ersten Mal seit 1933 – während einer legalen Diskussionsveranstaltung das Münchner Gewerkschaftshaus ab; niemand kam mehr hinein oder hinaus; die Polizei forderte die TeilnehmerInnen auf, einzeln zur Personalienfeststellung herauszukommen, was jedoch nach zwei Stunden Verhandlungen verhindert werden konnte.

Die mit nahezu 4.000 PolizistInnen aus dem gesamten Bundesgebiet hochgerüsteten Einsatzkräfte griffen am Samstag in der Münchener Innenstadt immer wieder zum Mittel der massenhaften Einkesselung, wenn es – trotz des Verbots – zu zahlenmäßig relevanten Ansammlungen von KonferenzgegnerInnen gekommen war; dabei kam es zu Knüppeleinsätzen und vorübergehenden Festnahmen, in deren Folge auch mehrere Menschen verletzt wurden.

Insgesamt hat es über den ganzen Zeitraum hinweg laut bayerischer Polizei „849 freiheitsentziehende Maßnahmen“ gegeben, von denen 43 Menschen am Sonntag noch nicht wieder freigelassen waren.

Eine 70-jährige Friedensaktivistin, die vom USK (Unterstützungskommando) brutal über den Haufen gerannt worden war, hat eine schwere Kopfverletzung erlitten und liegt seitdem im Krankenhaus.

Protest auf den Straßen Münchens gab es trotzdem

Trotz dieses mit überzogener, absolut unverhältnismäßiger Polizeigewalt durchgesetzten Ausnahmezustands waren am Samstag mehr als 10.000 GegendemonstrantInnen auf den Straßen Münchens. Sie schafften es immer wieder, sich zu Protestzügen zu formieren:

Kurz vor 13.00 Uhr war der Marienplatz voller Leute; wieder gab es viele Festnahmen, Personalienkontrollen und Platzverweise; trotzdem konnte sich gegen 14.30 Uhr eine Demonstration mit 3 – 4.000 Menschen vom Marienplatz weg bewegen; er wurde an der Ecke Frauen-/Zwingerstraße gestoppt; wieder mehre Kessel, mehrere Verletzte, Knüppeleinsätze; gegen 15.30 Uhr durchbrachen 4 – 5.000 Leute Polizeiketten und gingen schnell in Richtung Marienplatz.

Gegen 18.00 Uhr waren immer noch mehr als 5.000 DemonstrantInnen in München, die immer wieder versuchten, so nahe wie möglich an den martialisch befestigten Konferenzort („Bayerischer Hof“) heranzukommen; immer wieder gibt es Polizeikessel und kleinere Rangeleien.

Die Rote Hilfe protestiert

Die Rote Hilfe protestiert auf Schärfste gegen die verwaltungsgerichtlich bestätigte Verhängung des Ausnahmezustands über die bayerische Landeshauptstadt vor und während der „Konferenz für Sicherheitspolitik“, für die alle demokratischen Rechte an diesem Wochenende abgeschafft worden waren.

Hier zeigt sich erneut, dass der von konstruierten Bedrohungsszenarien zusammengehaltene Sicherheitsstaat sogar das grundgesetzlich verankerte Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit aushebelt, wenn dies dem Schutz eines internationalen militärpolitischen Treffens mächtiger KriegsstreiberInnen dient.

Massenhafte Kritik an staatlicher Repression, an Armut, Ausbeutung, Unterdrückung, am Kapitalismus, an globalen militärischen Strategien soll nicht an die Weltöffentlichkeit dringen. Dieses Kalkül der Herrschenden darf nicht aufgehen, es wird Leute geben, die weiterhin Widerstand leisten.

Niemand darf daran gehindert werden, gegen eine Politik auf die Straße zu gehen, die nur noch an der globalen Entfaltung kapitalistischer, rassistischer und militärischer Interessen orientiert ist.

Niemand darf daran gehindert werden, zu internationalen Treffen der Herrschenden und Mächtigen zu fahren, um dort – zusammen mit anderen – ihren/seinen Protest zum Ausdruck zu bringen.

Niemand sollte es widerstandslos hinnehmen, dass – unter welchem Vorwand auch immer – die kollektive Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit in seiner Ganzheit aus der Welt geschafft wird.

K. Deumeland für den Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.


Geheim 1 vom 1. April 2002, 7 f.

Überraschung

Jahr: 2002
Bereich: Sicherheitskonferenz