Materialien 2011
Rätselhaftes Sakrileg
Unweit von Schloss Berg am Starnbergersee erhebt sich über dem Ufer die Votivkapelle, die auf das Kreuz herabblickt, das im Wasser errichtet wurde, wo vor 125 Jahren die Leiche Ludwigs II. aufgefunden wurde. Am Vormittag des Pfingstmontag 2011 stehen 1.500 Menschen hier bei der Freiluftmesse, darunter Königstreue mit tränenfeuchten Augen, vornehm zurückhaltende Adlige, gstandene Fahnen- und Trachtenträger, Blasmusiker und Neugierige. Der Abt von Andechs pre-
digt. Gamsbärte wippen, Schürzen bauschen sich, eine Frau schluchzt.
Am Nachmittag ziehen durch die umgebenden Wälder an diversen auf Lichtungen geparkten Po-
lizeifahrzeugen vorbei etwa hundertfünfzig Menschen, um sich ebenfalls an diesem Ort zu ver-
sammeln. Es regnet. Auf einer überdachten Bühne haben sich die „Opernbayern“ postiert. Um 15 Uhr beginnen sie mit beschwingten Melodien aus Wagner-Opern.
Touristen beobachten erstaunt das Geschehen. Damen im aufgedonnerten Edeldirndl mit Blumen auf dem Arm, die sie am Ufer niederlegen wollen, verlassen angewidert das Gelände. Im bunten Völkchen tummeln sich eigenartige Gestalten. Ein blonder Mexikaner scheint sich verlaufen zu haben. Ein Tourist will wissen: „Sind Sie der Helge Schneider?“ Polizisten registrieren alle Ge-
schehnisse. Ein erboster Trachtler schimpft über diese Sauerei, die die „Stoderer“ hier aufführen.
Ein Flugblatt wird verteilt. In ihm heißt es:
„Wussten Sie, dass während der Regentschaft Ludwigs II. (1864 – 1886) …
1866: Im Krieg gegen die Preußen fallen Hunderte von bairischen Soldaten oder werden verwun-
det. Nachdem der Krieg verloren ist, muss Baiern 30 Millionen Gulden Kriegskostenentschädi-
gung zahlen und in einem geheimen Vertrag versichern, dass Baiern im Falle eines Krieges an der Seite Preußens kämpft.
Im März 1869 ordnet der Innenminister die sorgfältige Beobachtung von Arbeiterversammlun-
gen an.
Im Juli 1869 erscheint in München die erste sozialdemokratische Zeitung Baierns Der Proletarier. Bereits die erste Ausgabe wird von der Polizei beschlagnahmt. Die fünfte wird wegen unerlaubter Sammlung beschlagnahmt. Es handelt sich um einen Spendenaufruf für 349 streikende Arbeiter in Pfersee bei Augsburg.
1870 fallen im Krieg gegen Frankreich 3.876 Baiern.
Im Januar 1871 trägt Ludwig II. dem preußischen König die Kaiserkrone an und gibt die Souve-
ränität Baierns preis. Bismarck teilt er mit, dass ihm für seinen Einsatz sechs Millionen Gulden ‚angenehm’ seien.
Der Proletarier besteht bis zum 18. Juni 1871. Die Redakteure Robert Neff und Jacob Franz wer-
den zu Gefängnisstrafen von drei und fünf Monaten wegen ‚Beleidigung der Staatsregierung’ verurteilt. Sie flüchten in die Schweiz.
1874 werden in München alle Gewerkschaften bis auf fünf Zahlstellen verboten.
Von 1875 bis 1878 werden in München gegen 568 Mitglieder von sieben aufgelösten Organisatio-
nen Verfahren eingeleitet und Urteile bis zu drei Monaten Gefängnis verhängt.
Der Münchner Polizeigewaltige Freiherr von Feilitzsch im Jahre 1876: ‚Bei hohen Löhnen wird weniger gearbeitet, jeder einzelne hat Zeit, die von den Agitatoren veranstalteten Versammlun-
gen zu besuchen und dort die Sirenengesänge tagtäglich anzuhören; durch die dort aufgestellten Forderungen und Trugschlüsse wird seine Unzufriedenheit genährt, er hat übriges Geld zur Lei-
stung von Vereinsbeiträgen, d.h. zur Bezahlung der Agitatoren, zur Anschaffung sozialistischer Schriften; er ist nicht reif, um das Wahre zu erkennen, wirft sich in die Arme seiner Führer, wird ein unzufriedener Mensch und ein schlechter Arbeiter und nach dem Losungswort der Agitatoren darf er nicht sparen. Bei mäßigen Löhnen dagegen muss er täglich arbeiten, um seine Lebensbe-
dürfnisse für sich und seine Familie bestreiten zu können, er hat kein übriges Geld und keine übri-
ge Zeit, er wird zufriedener mit dem, was er hat und sucht sich diese Beschäftigung durch Fleiß, Mäßigkeit und ordentliches Betragen zu erhalten, und die Agitatoren müssen sich selbst wieder zur Arbeit bequemen. Die Streiks werden unmöglich oder missglücken.’
1878 erscheinen in Baiern der Münchner Zeitgeist, der Nürnberg-Fürther Sozialdemokrat, der Nürnberger Bauernfreund und der Würzburger Volksfreund. Redakteure werden bei jeder Gele-
genheit zu Gefängnisstrafen verurteilt, Redakteure des Zeitgeist erhalten 1875 – 1877 drei Jahre, sieben Monate und einundzwanzig Tage Gefängnis.
1878 werden in Folge der Sozialistengesetze die meisten sozialdemokratischen Zeitungen verbo-
ten, Gewerkschaften aufgelöst; es kommt zu vielen Gerichtsprozessen und Verurteilungen. Arbei-
terinnen und Arbeiter flüchten in die Schweiz oder gleich nach Übersee. Im Exil in Zürich er-
scheint der Sozialdemokrat. Einer seiner Redakteure heißt Georg von Vollmar.
1882 und 1886 kommt es in München zu den so genannten ‚Geheimbundprozessen’ …
Der König war im Volk verhasst. Erst mit seinem Tod läuft die Propagandamaschine an, die aus dem König einen verkitschten Mythos zaubert.“
Der Verfasser dieses Flugblatts schreibt „Baiern“ bewusst mit „i“. Er protestiert damit dagegen, dass Ludwig I. den Namen des Landes und des Volksstammes mit einem hochherrschaftlichen „y“ veredelte.
Jetzt spricht Wolfram Kastner, nach ihm führt Maria Peschek in die Historie der Regentschaft des Märchenkönigs ein, distanziert sich von der „Ludwixerei“, wie Kastner den Ludwig II.-Hype nennt, und liest Carl Amery.
Dieser berichtet in seinem Buch „Leb wohl geliebtes Volk der Bayern“:
„Erstens – König Ludwig II. machte sich auf Vorschlag von Graf Holnstein erbötig, gegen bare Vergütung seine aktive Zustimmung zu der Kaiserproklamation Wilhelms I. zu erteilen. Dies spricht er in einem Brief an Holnstein aus, den der Roßober (Holnstein) für künftige Rechtferti-
gung zu den Akten gab. (Die übliche Hundertjahresfrist, die solche Geheimakten gesperrt bleiben, ist längst verstrichen. Entweder das wittelsbachische Hausarchiv oder das bayerische Staatsar-
chiv ist aufgefordert, dem Souverän die schuldige Aufklärung zu geben.)
Zweitens – Mit dieser Vollmacht reiste Holnstein am 24./25. November 1870 nach Versailles, nachdem die offiziellen bayerischen Verhandlungen abgeschlossen waren. Schon eine Woche später war er zurück in München, besuchte den König, dem er das Bismarcksche Schreiben und das Konzept für die Einladung zur Proklamation übergab. Der König schrieb das Konzept einfach ab.
Drittens – Ab 1871 erhält der König regelmäßige jährliche Zahlungen aus dem Welfenfonds in Höhe von 300.000 Mark. Vermutlich fand 1871 eine größere Zahlung statt – aus den vorhande-
nen Quittungen ist das nicht zu erschließen.
Viertens – Die Summe wurde jedes Jahr von Graf Holnstein persönlich in Berlin entgegenge-
nommen. Der König erhält davon nur 250.000 Mark, 30.000 behält Holnstein als Provision, 20.000 werden einem Sonderfonds für persönliche Ausgaben des Königs zugeführt.
Fünftens – Am 5. Juni 1886, eine Woche vor dem Tod des Königs im See, wurde in Berlin ein Betrag von 250.000 Mark ausbezahlt, der in den Münchener Unterlagen nicht verbucht ist. Es konnte nicht aufgeklärt werden, wo diese letzte Rate verblieben ist.
Sechstens – Der bayerische Gulden wurde nach der Reichsgründung auf der Basis von 1 fl : 1.60 RM konvertiert. Dies ergäbe, nach der ursprünglichen Forderung Ludwigs, eine Summe von 3.200.000 Reichsmark. Eine jährliche Rente von 300.000 Reichsmark entspricht genau einer 9,4prozentigen Verzinsung dieser Summe oder einer Verzinsung von, sagen wir, 6 Prozent plus mittelfristiger Amortisation. Ludwig hat also unbeirrt und ziemlich genau das aus der Situation herausgeholt, was er von Anfang an herausholen wollte.“
So also hat Ludwig II. die Souveränität Bayerns an ein Deutsches Reich unter preußischer Vor-
herrschaft verkauft. Ob er ein schlechtes Gewissen hatte? Auf alle Fälle hatte er Angst. Wenn er, was sowieso selten vorkam, im Englischen Garten einen Spazierritt unternahm, begleitete ihn immer eine größere militärische Kavallerieformation. Er hatte Angst vor seinem „eigenen Volk“!
Zurück zum „König-Ludwig-Gedächtnisschwimmen“. Nach einer gefühlvollen Zwischenmusik durch die „Opernbayern“ trägt Boris Heczko ein Gedicht von Erich Mühsam vor, das 1928 ent-
standen ist.
In Treue fest
Wo weiß und blau die Pfähle ragen,
schluchzt in des Volkes Seele, ach,
die Sehnsucht nach vergangenen Tagen
und nach dem Hause Wittelsbach.
Denn unversehrt vom Hass der Roten
trägt stolz im Herzen Jung und Alt
das Bildnis Ludewigs des Zwoten,
des edlen Königs Lichtgestalt.
Er hat das Bayernvolk erzogen
zu marzipanenem Geschmack.
Wo Ludewigs Millionen flogen,
da blitzt’s von Gold und Silberlack.
Der böse Preuße stahl den Welfen
das Geld, das er dem Bayern gab.
Der Kriegsfreund selbst musst’ schaufeln helfen
des Bundesbruders feuchtes Grab.
Im Jahr dreihunderttausend Märker
stopft’ Bismarck ihm ins Portemonnaie,
und zwanzig Jahre trieb dies Werk er,
dann erst ersäuft’ er ihn im See.
Nur so gelang’s, zu überraschen
und meuchlings zu verderben ihn,
da sechs Millionen in den Taschen
selbst einen König niederziehn.
Doch da die meisten Menschen neigen
zu Argwohn, Unverstand und Neid,
so tut am besten man zu schweigen
von Bismarcks List und Ludwigs Leid.
Stach ihn das Gift auch der Reptilien,
so hat er glorreich doch regiert.
Auch lebt in bayrischen Familien
sein Bild noch heute, tätowiert.
Es lächelt mild von Brust und Schenkeln.
Enthüllt im stillen Schlafgemach,
erhält dies Bild des Landes Enkeln
die Treue zum Haus Wittelsbach.
Das Publikum applaudiert. Es regnet. Der nächste Programmpunkt wird ein Text von Johannes Glötzner, der von ihm und Carl-Ludwig Reichert vorgetragen wird. Der Text endet mit dem Wort „Heil“, worauf die Polizei einschreitet und die Herausgabe des Textes sowie die Personalien von Glötzner verlangt.
Eine Reporterin will von Kastner wissen, welchem Zwecke die Inszenierung diene. Kastner mit Schwimmbrille und Schnorchel auf dem Kopf meint: „Wir möchten ein Zeichen gegen den un-
säglichen Verblödungskult um eine Nebenfigur der europäischen Geschichte setzen.“
Der Regen lässt nach. Carl-Ludwig Reichert spricht, die „Opernbayern“ spielen und da liegt er, der tote König, von einer Schar von Fotografen umringt. München-Punk Olli Nauerz, gekleidet in eine aparte Lederhose, nähert sich dem König, beugt sich über ihn und küsst ihn – der König, Fritz Letsch in einer seiner besten Rollen, erwacht, richtet sich auf und nimmt sofort seine monarchi-
schen Pflichten wahr, verteilt huldvoll Golddukaten aus dem sagenhaften Reptilienfond und schreitet durch die Menge den Abhang hinunter, gefolgt von Badewilligen und einem Pulk von Fotografen.
Eigentlich ist hier schon immer aus Gründen der Pietät das Baden untersagt; für diesen Anlass aber hat ein mutiger Beamter eine Ausnahmegenehmigung mit der Begründung erteilt, dass das Demonstrationsrecht in der Demokratie ein hohes Gut sei.
Auf dem Wasser schaukelt schon das Boot der Wasserschutzpolizei. Beamte in neonroten Schwimmwesten stehen bereit, sich ins Wasser zu stürzen, falls ein Teilnehmer des König-Ludwig-Gedächtnisschwimmens auf das Kreuz steigt oder dieses gar umzusägen trachtet. Die Schwim-
merinnen und Schwimmer planen aber nichts dergleichen.
Kastner fragt später einen der leitenden Polizeioffiziere, wie viele Beamte denn an diesem Einsatz beteiligt gewesen seien. Die Anzahl wird aus „polizeitaktischen Erwägungen heraus“ nicht genannt.
Auf dem Heimweg fahren die Autos und Busse der Münchnerinnen und Münchner an einer Ver-
kehrsinsel vorbei, die sich am Ortseingang von Berg befindet. Vor einer hier deponierten, verroste-
ten, überdimensionalen Krone ist die Inschrift angebracht „Ein Rätsel will ich sein und bleiben“. Nicht nur diese Installation trifft auf fassungsloses Staunen der Stadtbewohner, auch die gerade beendete Veranstaltung selbst lässt manch Ludwigverehrer rat- und hilflos zurück.
Text: Franz Gans
Fotos: Jessica di Rovereto
14. Juni 2011