Materialien 1986
Schüler hauen auf die Pauke
Mit dem Aufschrei „Wir sind es, die die radioaktive Suppe, die uns von den Politikern eingebrockt wurde/wird, auslöffeln müssen“ riefen besorgte Pennäler ihre Mitschüler am Willi-Graf-Gymnasium zu einem Schulstreik auf. Das zog: Rund ein Drittel der Schülerbelegschaft versammelte sich vor Pfingsten für zwei Stunden auf dem Pausenhof. Protest gegen „den WAAnsinn der Kernenergie“ und die jüngsten Beschwichtigungsversuche von Seiten der Herrschenden. Auch ein Dutzend „aufgeschlossener“ Lehrkräfte schloss sich an. Ihr Kommentar zu Tschernobyl: „Es geht um Leben und Tod“.
Kein Verständnis für den Streik zeigte dagegen Schuldirektor Dr. Haugg. Seiner Meinung nach wurde „im Rahmen des Unterrichts optimal über die Kernenergie informiert“. Gerade noch tolerieren konnte er die aus den Fenstern hängenden Transparente mit Slogans wie „Heute Tschernobyl, morgen …“. Aber die Protestaktion selbst stempelte er als „Unterrichtsboykott“ ab. Jegliche schulrechtliche Grundlage entzog er ihr damit.
Etwas kleiner als die beeindruckende, fast 600 Schüler umfassende Menschenkette entlang des Willi-Graf-Gymnasiums fiel der Schulstreik am Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium aus. Rund hundert Schüler zogen – zum Teil in weißen Overalls mit Strahlen-Emblem – von ihrer Schule zum naheliegenden Umweltministerium. Auch hier: Ängste und Befürchtungen vor der Eigendynamik der Kernkraftwerke und -waffen.
Wie tief die Kluft zwischen den atomaren Horrorvorstellungen eines Schülers und dem zur politischen Erziehung seiner Sprösslinge angehaltenen Direktor ist, zeigt ein anderes Beispiel:
Mit einer Gasmaske „vermummt“ postierte sich der Schulsprecher des städtischen Adolf-Weber-Gymnasiums am Dienstag vor Pfingsten auf dem Pausenhof und verteilte Handzettel. Unter dem Titel „Tschernobyl ist überall“ rief der besorgte Gymnasiast seine Mitschüler zum Nachdenken auf. Seine Begründung: „Ich sehe das in Artikel 2,2 des Grundgesetzes verankerte Rech auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch die nach dem russischen Gau getroffenen Maßnahmen nicht mehr gewährleistet.“ Die Reaktion von Direktor Anton Gierl ließ nicht lange auf sich warten. Per Lautsprecheransage verkündete er: Sechs Tage Schulverbot für den Atom-Protest des 18-Jährigen. Das ist die Höchststrafe, die er als Schuldirektor aussprechen kann. Scheinbar unmöglich war es ihm wohl, in der Eigeninitiative des engagierten Schülers etwas anderes als politische Werbung und Agitation zu sehen. Anton Gierl: „Der Schüler hat das Ganze rasch, heimtückisch und vorsätzlich gemacht.“
Anders denken andere. Eine Solidaritätswelle für Franz Jakob kam nicht nur von seinen Mitschülern, auch von Seiten der Eltern. Die SPD-Landtagsfraktion klemmte sich auch gleich hinter den Fall. Kultusminister Maier wurde aufgefordert, die Schulsperre – die restlichen drei Tage stehen nach den Pfingstferien noch aus – sofort aufzuheben. Manfred Jena, der jugendpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, verurteilte das Schulverbot als „drakonische Strafaktion“. „Das zeigt ein Verständnis von Demokratie, das unseres Rechtsstaates unwürdig ist“, klagt er.
Aber vielleicht besinnt sich Direktor Gierl doch noch, seinem Bildungsauftrag nachzukommen. Denn der heißt ja wohl: Erziehung politisch eigenständiger Schüler. Zu wünschen wäre es …
Gabi Zimmermann
Münchner Stadtzeitung vom 30. Mai 1986, 184.