Flusslandschaft 1968
Religion
„Besonders rege ist der Protest bei Schüler/innen und Student/innen. Nachdem bereits am 1. Februar 1968 Studierende zum Kirchenaustritt aufgefordert haben1, bringt das Schülermagazin ‚underground’ einen Beichtstuhl-Test. Gymnasiasten testeten 6 Münchner Beichtväter und kamen zu dem Urteil: ‚Verklemmte Apostel’. Textprobe: ‚Was die katholischen Repräsentanten mit ihren „Beichtkindern“ tun, ist eindeutig jugendgefährdend, ist ein unerlaubter Eingriff in die persönliche Freiheit jedes einzelnen.’ Der Sturm der Entrüstung, der deswegen losbrach, reichte von der CSU über den Bundespresserat, das Bundesfamilienministerium und die Bundesprüfstelle für jugend-
gefährdende Schriften (die die Schülerzeitung kurzzeitig auf den Index setzte) bis zum Bundes-
präsidenten. Dabei war die Idee nicht so neu: Das satirische Monatsblatt ‚Pardon’ hatte im März 1967 seinen Reporter Günter Wallraff unter falschem Namen bei Geistlichen teils im Beichtstuhl, teils per Telephon fragen lassen, ob er als ‚katholischer Unternehmer mit Gewissensbissen’ Napalm für die US-Army in Vietnam liefern dürfe. Die meisten Priester äußerten keine Bedenken, sofern es ‚gegen die Roten’ angewendet würde.“2
Nach einem fast hundertjährigen Streit um die Konfessionsschule finden am 7. Juli CSU und SPD zu einem Kompromiss, der die bayerische Volksschule künftig als christliche Gemeinschaftsschule, nicht mehr als Bekenntnisschule, etabliert. Der Kompromissvorschlag wird bei einem Volksent-
scheid, dem ersten Volksentscheid zur Änderung der Bayerischen Verfassung, mit 74,8 Prozent der Stimmen, in München 77,4 Prozent, angenommen.3
Aus dem offenen Brief von Luise Rinser an den Erzbischof von München-Freising und Vorsitzen-
den der Fuldaer Bischofskonferenz: „Die Empfehlung des Papstes, die Eheleute mögen eben ent-
haltsam leben, erscheint jemandem, der wie ich längere Zeit unter Armen und Arbeitslosen lebte, geradezu unbarmherzig. Welche Freude bleibt denn solchen Leuten als jene der ehelichen Umar-
mung? Wer ein asketisches Programm aufstellt, muss auch dafür sorgen, dass Bedingungen da sind, unter denen es verwirklicht werden kann. Und endlich: Die Sorge, die Freigabe antikonzep-
tioneller Mittel fördere die Unmoral (vorehelicher Verkehr und Ehebruch), macht den realistischen Menschen lachen. Wer ‚unmoralisch’ lebt, findet auch Mittel, sich der Folgen zu erwehren. Und eine ‚moralische’ Haltung aus Angst vor dem Kind verrät nicht eben eine echte Moral, sondern Feigheit und Scheinheiligkeit.“4
Der 5. Senat des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs entscheidet am 6. Dezember endgültig, dass Kruzifixe in den Sitzungssälen bayerischer Gerichte hängen bleiben.
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 28/1968.
2 Freidenker-Info vom September 2011, 6.
3 Vgl. Gerson Peck: „100 Jahre Schulkampf oder der lange Weg zur Gemeinschaftsschule in München“ in Landeshauptstadt München (Hg.), Wie wir werden, was wir sind. Zur Geschichte der Erziehung in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1997/98, München 2001, 104 — 111.
4 Politische Studien. Zweimonatsschrift für Zeitgeschichte und Politik 181 vom September/Oktober 1968, 573.