Materialien 1978

Sonst herrschte hier Grabesstille ...

Betonsilos vor den Städten, genormte Lebensbedingungen, Isolation der Bewohner. Frauen setzen sich dagegen zur Wehr. Beispiel: der Frauentreffpunkt Neuperlach

„Wir Mütter haben zu Hause keinen Ort, an dem wir einmal ungestört von Kindern und Ehemännern für uns sein können, um in Ruhe etwas zu durchdenken, zu lesen, unter Frauen zu besprechen. Die Alleinstehenden unter uns wüssten ohne den Frauentreffpunkt nicht, wohin sie gehen sollten, wenn sie unter Menschen sein wollen. Denn in den Gaststätten werden wir ohne männliche Begleitung immer noch schief angesehen oder gar belästigt. Kontakt zu finden ist dort unmöglich. Wenn wir nicht kirchengläubig sind, gibt es außer im Frauentreffpunkt keine Frauengruppe, der wir uns anschließen könnten. Einrichtungen wie Hausfrauenprogramme oder Gesprächskreise der Volkshochschule oder Kurse der Gewerkschaft usw. sind eine wichtige Sache; aber sie sind nicht so angelegt, dass wir darin eine eigene Initiative ergreifen und zu einer festen Gruppe zusammenwachsen könnten.“

Frauen kämpfen um ihren Treffpunkt. Sie schreiben gemeinsam einen Brief an die Geldgeber. Denn dieser Frauentreffpunkt ist mit unabhängigen Zentren der autonomen Frauenbewegung nicht vergleichbar, die sich im allgemeinen in Altbauwohnungen, in Altbau-Ladenlokalen finden — aus gutem Grund, denn dort ist die Miete niedrig. Und die Frauen, die ihre Arbeit in diese autonomen Zentren stecken, sind verglichen mit den Briefschreiberinnen privilegiert: Studentinnen meist, oder junge Frauen, die es sich leisten können, wenig zu verdienen, die keine Familie haben.

Leben in Betonsilos

Die Frauen, die diesen Brief verfassten, haben eine ganz andere Lebenssituation. Sie wohnen in einem jener Horror-Viertel, die „moderne“ Architekten am Rande der Großstädte in die Landschaft geklatscht haben, -zig Stockwerke hohe Betonkästen, Türen, Fenster, Balkone, alles das gleiche Raster. In diesem Fall: Neuperlach, ,Stadtteil von München. 25.000 Einwohner, vor allem Familien mit Kindern, ein Drittel davon mit einem Nettoeinkommen pro Haushalt von 1.400 Mark, nur bei 15% liegt es über 2.600 Mark. Fast die Hälfte der Siedlung ist sozialer Wohnungsbau, dort ist jede zweite Frau berufstätig. Von den Grundschülern, so wurde ermittelt, ist jede zweite Mutter tagsüber „auf Arbeit“. Ein Zehntel der Einwohner sind Kinder zwischen sechs und zehn.

Es gibt viele solche Siedlungen in der Bundesrepublik, und überall die gleiche Struktur. In Neu-Perlach gibt es für 25.000 Menschen kein Kino, nur vier viel zu teure Kneipen, in keinem der Blocks Gemeinschaftsräume — viele Menschen brechen in diesem Feierabendpferch in ihren engen vier Wänden entweder in Aggressionen aus oder verfallen der Resignation, auch dem Alkohol. Nachdem — wie in allen Siedlungen ähnlicher Art — offenbar wurde, wie sich die Unmenschlichkeit solcher Bauweisen auf die Bewohner auswirkt, wurde auch in Perlach eine „Feuerwehr für Einwohnerprobleme“ geschaffen. Dort heißt sie „Verein für Gemeinwesenarbeit“: eine Gruppe Sozialarbeiter, finanziert u.a. von der Stadt München, dem Land Bayern, den Kirchen. Auch der Bauherr dieser Siedlung, die „Neue Heimat“, ist Mitglied des Vereins.

Ein Laden für Frauen

Und aktive Bewohnerinnen erkämpften sich mit Unterstützung von dort tätigen Sozialarbeiterinnen ihren Frauentreffpunkt: einen Laden zwischen Friseur, Bäcker, Gemüsegeschäft, Schreibwaren. Es fing an mit einer Kaffeestube und einer Verkaufsaktion für gebrauchte Kinderkleider. Heute steht ein respektables Programm am schwarzen Brett: Autoreparierkurse, Fotowerkstatt, Gitarrenspielen, Gymnastik, Kindertheater. „Und dann haben wir noch Offene Abende, zu denen jeder kommen kann, wo allgemein diskutiert wird, alles mögliche beklönt“, sagt Barbara, eine der Treffpunktfrauen. „Und im monatlichen Plenum werden alle aktuellen Fragen besprochen, Konzeption, Planung, Organisation, auch alles, was mit der Stadtteilarbeit zusammen hängt.“

„Keine Institution oder Organisation außer der Gemeinwesenarbeit ermöglicht es uns, eine eigene Position zu Frauenfragen zu entwickeln oder mit anderen Stadtteilinitiativen zusammenzuarbeiten, ohne Rücksicht auf irgendwelche parteilichen oder tendenziösen Interessen. Wir Frauen verdienen nicht genügend Geld; auch vom Haushaltsgeld lässt sich nicht so viel abzweigen, dass wir die hohen Miet-, Büro-, Druck- usw. Kosten selbständig aufbringen könnten. Und ohne diese Erleichterungen wären wir zeit- und kräftemäßig so überfordert, dass wir ,passen’ müssten.“

Dieser Brief ist ein intensiver Appell der Frauen, denn zum 1. Juli 1978drohte ihnen die Schließung ihres Ladens. Für 600 Mark Kostenmiete hat die „Neue Heimat“ ihn dem Verein zur Verfügung gestellt, auf dem „freien Markt“ würde er etwa 2.000 Mark monatlich bringen. Werden die Geldgeber umzustimmen sein? Immerhin kann der Frauentreffpunkt eine beachtliche Liste von Aktivitäten vorweisen, ob sie allerdings immer im Sinne der Finanziers waren, ob sie von ihnen als notwendig und wichtig erachtet werden, ist eine andere Frage …

Getestet: Frauenärzte

Nach Kaffeestube und Kinderkleidertausch war die erste gezielte Aktion: sämtliche Perlacher Frauenärzte wurden besucht und Fragebogen an Frauen ausgeteilt, in denen sie ihre Erfahrungen mit den Ärzten aufschreiben sollten, „Heute ist es so: wenn Frauen sagen, sie kommen vom Frauentreffpunkt, sind die Frauenärzte vorsichtiger und genauer“, sagt Traudl.

Nächstes Projekt: Gesprächsgruppe zu Ehe- und Familienfragen, zu Scheidungs- und Folgeproblemen. Zwei der Teilnehmerinnen hatten schon die Scheidung hinter sich. Das Ziel: für Geschiedene ein Schneeballsystem von Selbsthilfe, Kinderbetreuung, gemeinsamen Unternehmungen. „Aber das hat nicht so funktioniert, wie wir uns das dachten“, sagt Barbara. „Wenn die Frauen dann geschieden sind, ziehen sie oft in einen anderen Stadtteil, weil eben die Männer hier die Wohnungen behalten.

Viele müssen dann auch ganztags arbeiten, außerdem für ihre Kinder sorgen — es bleibt ihnen kein bisschen Zeit übrig. Und einige kommen zwar weiter zu uns, arbeiten aber in anderen Gruppen mit, weil sie den Trennungsschock überwinden, nicht mehr davon reden wollen.“

Ehemänner sind sauer

Die meisten Teilnehmerinnen jedoch sind Ehefrauen, Mütter. „Viele Frauen, die zum ersten Mal hierherkommen, sagen: mein Mann hat mich geschickt“, erzählt Traudl. „Aber wenn die Frauen dann mehr als einen Abend in der Woche nicht zu Hause sind, wenn sie davon erzählen, was wir hier machen, wenn die ersten Komplikationen auftauchen, wenn die Männer merken: sie lässt sich nicht mehr so leicht von meinen Argumenten überzeugen: dann ist es plötzlich ganz anders, dann werden die aggressiv, protestieren. Auf eine ganz hintertückische Weise manchmal: Ausgerechnet an dem Abend, wenn die Frau zum Treffpunkt will, kommen sie zu spät von der Arbeit, mussten plötzlich Überstunden machen, oder fangen lange Diskussionen an, über Themen, die mit der Sache scheinbar nichts zu tun haben. Und wenn der Samstagsausflug auf dem Programm steht und wir haben hier was vor, Informationsstand oder so, und die Frau sagt: ich kann aber erst um halb eins, dann sagt er: entweder wir fahren um halb zwölf oder gar nicht! Wenn sie was anderes vorhätte, wäre das Verschieben um eine Stunde bestimmt kein Problem. Aber dies ,Entweder — Oder’ — das ist eine sehr typische Haltung der Ehemänner.“ Und eine Frau fand sogar, als sie spät nachts vom Treffpunkt zurückkam, ihre Wohnungstür von innen verschlossen. Doch sie setzte sich nicht etwa weinend auf die Treppe — wie es sich der Ehemann wohl vorgestellt hatte, sondern übernachtete bei einer anderen Treffpunktfrau. Und er konnte am nächsten Morgen die Kinder anziehen, ihnen Frühstück machen, sie auf den Schulweg bringen und kam zu spät zur Arbeit …

Im Brief der Treffpunktfrauen ist diese Situation so geschildert:

„Wenn wir heute unsere Wohnungen verlassen, um zum Frauentreffpunkt zu gehen, dann haben wir darüber vorher oft lange Auseinandersetzungen mit Männern und Kindern hinter uns, und vor uns viel liegengebliebene Arbeit, wenn wir von der Frauengruppe heimkommen. Wir gehören zu einer Generation, in der Mädchen einseitig auf ein Leben als ,Gattin’, Hausfrau und Mutter hin erzogen wurde … Passivität, einseitig subjektives Denken, Konfliktscheuheit, übertriebene Anpassung führt zu verheerenden psychischen Auswirkungen innerhalb der Familie, gerade in Neuperlach, wo beengte, isolierende Wohnbedingungen und die wenigen sozialen Treffpunkte unsere Lage zuspitzen. Die anerzogenen Persönlichkeitsmängel wollen wir in unserem eigenen Interesse und dem unserer Kinder durch selbstverantwortliches Lernen, Planen, Diskutieren und Handeln beheben.“

So lernten wir schreiben

Für einen Brief an Behörden und Institutionen ein erstaunlich persönlicher, engagierter, unbürokratischer Stil. Dazu Christine: „Wir haben uns immer unheimlich schwer getan mit sprechen und schreiben. Die Frauen, die hier bei uns sind, haben Grundschul-, höchstens Realschulbildung. Unter uns ist keine einzige Akademikerin. Der Brief ist so entstanden, wie wir auch unsere Artikel für die Frauenseite (für die haben wir auch lange gekämpft) der Perlacher Stadtteilzeitung machen: wir sitzen ewig zusammen, jede sagt ihre Ideen zum Thema, eine schreibt mit, notiert auch vor allem spontane Aussprüche, die sie besonders treffend findet – dann wird das abgeschrieben, wir machen daraus gemeinsam eine Rohfassung, dann gehen verschiedene Frauen noch zwei-, dreimal redaktionell drüber, schließlich entsteht so eine Endfassung, der dann alle zustimmen können.“

Frauen und Stadtteil

Bei dieser Art von Arbeit treffen sich spezifische Frauenfragen mit allgemeinen Stadtteilproblemen. Kommen dabei nicht die eigentlichen Fraueninteressen zu kurz?

„Das ist nicht leicht zu beantworten“, sagt Erika. „Die Frauen hier haben oft erstmal nur die Erwartung von Rat und Trost. Deshalb hat die Nachbarschaftshilfe auch einen viel größeren Zulauf als wir, weil wir andere Ansprüche stellen. Wir sind unbequemer. Wir wollen uns nicht wieder auffressen lassen von der pragmatischen und fallbezogenen Hilfe, wollen nicht Trostpflästerchen verteilen, das wäre ja wieder die alte Frauenrolle von Caritas und Mütterlichkeit. Wir Frauen sind ja erzogen, immer nur von uns für andere zu geben, was für andere zu tun. Wir hier hingegen wollen bei allen Dingen fragen: Was bedeutet das für uns, was lernen wir dabei, wie können wir uns mit verändern, wenn wir versuchen, die unmenschlichen Lebensverhältnisse hier zu ändern?“

Frauen, die neu hinzukommen, haben es bei diesem Anspruch schwer: die Probleme, die mit der Selbstverwaltung des Treffpunkts, der Stadtteilarbeit, den einzelnen Initiativen zusammenhängen, sind ihnen zunächst ganz und gar fremd. „Frauen machen hier eine Schnellbleiche in politischer Bildung und Sozialstaatspraxis durch“, sagt Barbara. „Deshalb sind die Offenen Abende so wichtig, um außerdem noch persönliche Fragen zu klären. Die Mischung von sachlicher Arbeit und persönlicher Diskussion ist sehr bewusstseinsfördernd.“

Wenn die Frauen dann dabei bleiben, sind sie auch voll da. Beispiel: Gabriele, drei Kinder, von ihrem Mann getrennt, arbeitet bei Siemens, lebt von zwölfhundert Mark im Monat. „Am aktivsten sind die, denen das Wasser bis zum Hals steht“, sagt Christine. Darum schrieben sie auch das an die Behörde:

„Wir erfahren diesen Weg ,ins Leere’ — wie ihn eine von uns treffend nannte — als positiv. Wir entwickeln Selbstbewusstsein, begreifen mehr und mehr gesellschaftliche Zusammenhänge und sind dadurch allmählich in der Lage, unser Leben innerhalb unserer Familien, im Beruf, im Stadtteil günstig zu verändern.“

Der „Weg ins Leere“

Dieser „Weg ins Leere“, also die Entwicklung zu einem nicht vorher festgelegten Ziel, wurde von den Geldgebern des öfteren als „ineffektiv“ bezeichnet. Doch Bewusstseinsentwicklungen schlagen sich nun mal nicht in Zahlen oder greifbaren Erfolgen nieder. Die Frauen kontern diesen Vorwurf:

„Was daran ist – wie Sie sagen – ,ineffektiv’, wenn unsere Kirchen- und Lohnsteuern zu einem kleinen Teil unserem eigenen Fortschritt zugute kommen; denn daraus schließlich wird die Gemeinwesenarbeit doch bezahlt? Und auch die ‚Neue Heimat’, als größte Vermieterin in Neuperlach, lebt sie nicht letztlich von unseren Gewerkschaftsbeiträgen? Fragen Sie unter den Frauen und Mietern, die täglich ratsuchend in den Frauentreffpunkt kommen, ob unsere Existenz mit ihren Abgaben zu teuer bezahlt ist!“

Trotzdem macht Barbara, die andere Arten von Frauenaktivitäten kennt, Einschränkungen: „Dieser notgedrungene Kontakt mit den Institutionen hat die Gefahr einer Selbstzensur. Du nimmst dich in einer gewissen Militanz zurück, bist in Gefahr, dass dir ausgefallene Ideen gar nicht mehr kommen. Wirst eingesogen von der Art der Verhandlungen, von ‚vernünftiger’ Argumentation — um des Zieles willen — von ,taktisch’ sein. Das ganze Dilemma des langen Marsches durch die Institutionen wiederholt sich hier im kleinen. Gewisse unkonventionelle Dinge, die die Qualität der APO und der frühen Frauenbewegung ausgemacht haben: witzige Provokationen, Formen, wo Frauen spontan mitmachen können, das fällt hier flach …“

Aber: Was wäre sonst?

„Andererseits“, sagt Erika, „in diesem Stadtteil wäre Grabesruhe, hätten wir nicht wenigstens diese Form der Arbeit erkämpft. Aber es stimmt schon: du wirst hinter deinem Rücken und unmerklich unheimlich eingesackt von der Eigendynamik, die solche halbinstitutionellen Einrichtungen entwickeln.“

Das sagen die, die schon lange dabei sind und sich viele Gedanken gemacht haben. Für das Gros der Frauen, die zum Treffpunkt kommen, wäre es schlimm, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Wird er weiterbestehen können? Den Löwenanteil für den Verein zahlt die Stadt München, und dort ist die Rate für das dritte und vierte Quartal noch nicht gesichert. Erst im Mai berät der zuständige (und nach der Wahl mit neuen Leuten besetzte) städtische Ausschuss. Auch der Beitrag des Arbeitsministeriums ist noch nicht gesichert und die Innere Mission kommt erst im Herbst mit dem Geld über. Und die Frauen selbst? Tja — wie hoch ist wohl das Taschengeld einer Hausfrau, deren Familie ein Nettoeinkommen von 1.400 Mark hat?

Friederike Münch


♀Emma. Zeitschrift für Frauen von Frauen 5 vom Mai 1978, 38 f.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Frauen